DAVE PHILLIPS: Songs Of A Dying Species

Früher nannte man sie Wilde – Menschen, die in vormodernen, meist verwandschaftlich organisierten Gemeinschaften leben und ihr Wirtschaften und ihre Mythen nach den Abläufen der Natur ausrichten. Später sprach man von Stammesgesellschaften oder von Naturmenschen. Ist es falsch, solche Begriffe noch immer zu gebrauchen? Ja, vorausgesetzt, man betrachtet die derzeitige Zivilisationsform mit all ihren Kollateralfolgen, die Mitteleuropa global durchsetzte, als einzig erstrebenswertes Modell und als Maß für alles andere. Pflegt man zu alldem eine gewisse Distanz, kann „wild“ bei allem Befremden eine neutrale oder je nach Intention sogar positive Vokabel sein. Claude Levi-Strauss machte das ganz gut vor.

Dave Phillips, für den viele zentrale Errungenschaften der Moderne das Resultat einer kolossalen historischen Fehlentwicklung darstellen, muss sich um keinen politisch korrekten Spießbürgerknigge scheren. „Songs of a dying species“, das mehr eine Art „Dave Phillips presents…“ darstellt, ist dem demographischen Niedergang „wilder“ Kulturformen gewidmet, deren Angehörige (laut einem abgedruckten Zitat aus Will Selfs “Great Apes”) in den letzten Jahrzehnten von mehreren Millionen auf zweihunderttausend geschrumpft sind. Während ein Großteil der so modernisierten nun in Armut und manchmal auch in Freiheit die Slums dieser Welt bevölkert, dokumentiert Phillips Reste wilder Praktiken im Rahmen ethnografischer Aufnahmen. Freilich wäre es kein Phillips-Release, hätte er nicht an manchen Stellen mittels Verfremdung eigene Akzente gesetzt.

Auf den zwanzig kurzen Tracks der CDr hört man neben polyrhythmischem Metallrasseln und rituellen Gesängen von anheimelnder oder entmenschlichter Art auch die Stimmen und Geräusche von Straßenszenen und vieles, bei dem sich die Klänge der Menschen und der Natur mischen. Phillips beschränkt sich auf selbst bereiste Länder in Europa und v.a. Asien und ist dabei keineswegs an so etwas wie „ursprünglicher Reinheit“ interessiert. Die Wildheit, der er hier nachspürt, zeigt sich oft in den Nischen moderne(re)r Kulturen. So ist im entgrenzten Jubel türkischer Fußballfans ebenso viel Uriges erhalten wie im Mitschnitt einer Pekinger Theateraufführung, die zumindest in der hier hörbaren Aufnahme noch nicht vollends der Vermarktung und Trivialisierung anheimgefallen ist.

Archaisches – auch dieses Wort muss fallen – findet sich auch in den monotheistischen Religionen, im katholischen und v.a. orthodoxen Christentum, im sufischen und schiitischen Islam und natürlich auch im traditionellen Judentum, dem er hier eine Aufnahme an der Jerusalemer Klagemauer widmet. Nicht weit davon entfernt und womöglich während des gleichen Aufenthalts führte er mit israelischen Künstlern eine Performance namens „Religion is Stupid“ auf. Widersprüchlich? Nicht unbedingt, aber es gibt einiges über und mit Phillips zu diskutieren, was demnächst auf diesen Seiten auch passieren wird. (U.S.)

Label: Noisendo