Sicherung (traducción de Timo Berger)

Die Beerdigung von Pedro vor einem Jahr stellte sich als Scheinbegräbnis heraus. Als seine Kinder am Friedhof ankamen, teilte man ihnen mit, dass die Familiengruft voll war und der Sarg in einer Gemeinschaftsgrabstätte untergestellt werden müsste, bis man die ältesten Vorfah­ren eingeäschert hätte. Platz zu schaffen, würde Zeit in Anspruch nehmen und unzählige bürokratische Vorgän­ge erfordern. Sie bekamen zumindest die Erlaubnis, die Gruft zu öffnen, dem Toten das letzte Geleit zu geben und sie wieder zu verschließen. Später, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wurde der Sarg wie mit den Behörden ver­einbart wieder herausgetragen und in ein Depot gebracht. Am folgenden Tag rief Víctor seine Brüder an. Er sagte ihnen, er würde es nicht hinnehmen, dass sein Vater in einem Keller mit anonymen Leichen verfault, dass ihn das schlechte Gewissen nicht schlafen ließ und dass er zwei Parzellen auf einem Privatfriedhof in den Außenbezirken erstanden hatte, mit einer Allee und sogar einem Teich, der Rasen perfekt gemäht, ein Golfplatz. Die eigentliche Beerdigung fand in der darauf folgenden Woche statt. Es war intime Formalität, im Beisein der Witwe und der vier Söhne, so wie wenn man einen Baum verpflanzt.

Auch die gerade zu Ende gegangene Zeremonie war zum Teil eine Scheinbeerdigung, weder Fisch noch Fleisch; auf einmal doch mehr als eine bloße Gedenkfeier zum ers­ten Todestag. Nach den Worten des Priesters verspreng­ten sich die mehr als hundert Teilnehmer, es waren sogar Menschen darunter, die vor einem Jahr nicht auf dem in­nerstädtischen Friedhof gewesen waren und die sich jetzt neu gruppierten und in Richtung Parkplatz ein Rinnsal aus schwarzen Ameisen bildeten, als ob einer das 18. Loch gespielt hätte. „Nicht mal tot wird der Ruhe geben“, sagte jemand aus der sich immer weiter lichtenden Gruppe der Freunde des Verstorbenen und lachte verschmitzt.

Aus der Stadt erreichten uns Sturmböen: Der Wind und die Vegetation milderten die Hitze des Tages ab. Dort ließ der Regen nicht lange auf sich warten, auch hier schien es gleich anzufangen. Die Welt stand kurz davor, von einem Moment auf den anderen unterzugehen, und trotzdem geschah nichts von all dem. Die Regenschirme, die vie­le mitgebracht hatten, wirbelten wie Stöcke herum und begleiteten den Austausch von Küssen, Umarmungen, Handschlägen und sogar Sarkasmen, wie der von gerade eben, die die Gewitterwolken des Schmerzes verscheuch­ten, die sich über einigen zusammengebraut hatten. Was mag die Großmutter, die die ganze Zeit vor der Parzelle stand, die ihr ältester Sohn für sie und ihren Mann er­worben hatte und in der irgendwann ihr eigener Körper seine letzte Ruhestätte finden sollte, gefühlt haben? Und während der Priester sprach, lag da ein Groll in der Luft? War das sein Hüsteln, das zwischen Stille und gesenkten Köpfen widerhallte? Der Kerl muss unseren Großvater in seinen letzten Jahren gekannt haben. Nur das erklärt, dass er solche Lobreden ausgeschüttet hatte – denn, wenn er – wie letzten Endes jeder – die eine oder andere zu Recht verdiente, so waren es nicht unbedingt diese, die ihn am besten widerspiegelten.

Ein Vogel flog eilig in sein Nest zurück, schwarz vor einem Hintergrund aus dichten sepiafarbenen Wolken. Es schien, als würde die geringste Reibung sie in Blitz und Donner ausbrechen lassen, bis jetzt aber hörte man nur das Rauschen von der Autobahn. Das gleichförmige Geräusch rasender Autos und das Brummen des Indus-triegebiets bereiteten das mentale Terrain für die ein oder andere transzendentale Meditation, doch dann sah er von Weitem schon Laura, auch sie erkannte ihn sofort. Er hatte noch nicht mal zwischen Überraschung und Freude die Augenbrauen hochgezogen, als sie ihn schon begrü­ßen kam. Sie war mit Daniela unterwegs, kam gegen den Strom der Leute, die zum Parkplatz drängten, auf ihn zu.

Er wollte eine Begegnung mit Marcos und seinem Partner vermeiden. „Nicht mal tot wird er Ruhe geben“, wieder­holte er, doch das fanden sie nicht lustig. Laura teilte nicht seinen Sinn für Humor. Trotzdem war sie diejenige seiner Cousinen, mit der er sich in der letzten Zeit am besten vertrug. Mehr als eine Komplizenschaft seit der Kindheit, die er auch mit Delfina oder Marcos gehabt haben könnte, vereinte sie eine feinsinnige Sympathie, eine aufkeimende Erwachsenheit, die ihm meist als Produkt eines Missver­ständnisses vorgekommen war. So oder so hatte sie ihm Daniela vorgestellt, ihre Busenfreundin, mit der er das, was sie in Folge hatten, nie klären konnte, sodass sie auf­hörten, sich zu treffen.

Sie verharrten einige Sekunden in Stille, die drei alleine auf dem gepflasterten Weg, bis in der Ferne einige Ra­sensprenger angingen und er Laura fragte, ob sie ihn mit­nehmen könnte, und sie wie immer, wenn sie ihm einen Gefallen tun konnte, der ihr keine Anstrengung abver­langte, überschwänglich zusagte. Als sie das Auto erreich­ten, tauchte eine andere Frau auf, die sich ihnen anschloss. Eine Kollegin von Daniela, die in der Gegend wohnte. Sie war als Begleitung mitgekommen und jetzt würden sie sie auf der Rückfahrt bei ihr rauslassen. Ihr Name war Rocío. Aber Agustín kannte seine Cousine aus eigener Erfah­rung: Sie hatte sie mitgebracht, um sie einem ihrer Brüder oder Cousins vorzustellen. Sie ließ keine Gelegenheit aus. Sie waren immer so gewesen, die beiden, Lara und Dani­ela: eine verheiratete Terrorzelle.

Er bot Daniela den Vordersitz an, um nicht mit ihr zu­sammen auf der Rückbank zu sitzen. Als sie auf die Au­tobahn fuhren, fragte Daniela, ob sie das Radio anstellen könnte und Laura sagte Nein, ihr jüngerer Bruder habe vor ein paar Tagen einen Bleistift in den Zigarettenanzünder gesteckt, als sie kurz irgendetwas holen ging, und es habe einen Kurzschluss gegeben und fast sei alles in Flammen aufgegangen, und nun würde nichts mehr auf dem Ar­maturenbrett funktionieren. Auch nicht die Klimaanlage, und es wäre also besser, die Scheiben ein wenig herunter­zukurbeln. „Wann war das?“, fragte Rocío, nur um etwas

zu sagen, aber Lara antwortete nicht, so als ob es sich bei den „vor ein paar Tagen“ in Wirklichkeit um Monate ge­handelt hätte, als ob diese Geste der Nachlässigkeit etwas offenbarte, was man besser verstecken sollte. „Wie schade, dass deine Eltern nicht gekommen sind“, sagte Laura zu Agustín und blickte ihn im Rückspiegel an. Sie war die vierte oder fünfte Person aus seiner Familie, die densel­ben Kommentar vom Stapel gelassen hatte, und obwohl er ihm anfangs ganz natürlich vorkam, bemerkte er bald eine gewisse Ironie, eine gewisse Gewalt in diesen Worten, die so überlegt daherzukommen schienen.

Da niemand etwas sagte, fingerte Rocío ihr Handy her­aus, klappte es auf und ließ ein Lied durch den Lautspre­cher tönen. Die Musik klang verzerrt und schrill. Agustín war kurz davor, sie zu bitten, es auszuschalten, aber er stellte fest, dass es den dreien Spaß machte, über die Au­tobahn zu fahren und schweigend diese romantische Bal­lade zu hören, dass man so auch nicht darüber nachden­ken musste, was man sagen sollte, und so blieb er still, hielt sich am Griff fest, sah zum halb heruntergekurbelten Fenster hinaus und schloss die Augen im Fahrtwind. So ließ es sich aushalten. Er befürchtete, dass es ein Problem mit der Erbschaft gegeben hatte.

Obwohl es ein neuer Wagen war, fuhr Laura nur 70 km/h und wechselte zwischen der mittleren und der rech­ten Fahrspur ab, deswegen musste sie sich mit Lastwagen, Kombis und Bussen herumschlagen, zusätzlich zu den ramponierten Autos, die sich allein aus Trägheit fortbe­wegten. Es gelang ihr nicht, sie rechtzeitig zu überholen. So musste sie die Geschwindigkeit reduzieren und hin­ter ihnen herfahren, und sie ärgerte sich darüber, dass sie nicht den Mut aufbrachte, an ihnen vorbeizuziehen. Da­niela sprach über die Schwägerin der Frau ihres anderen Cousins. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt, oder er hatte sie verlassen. Das war das, was sie sich fragte, denn sie habe so schlecht ausgesehen, so verbraucht, dass ihr die Zweifel kamen. Laura antwortete: „Das kannst du nicht verstehen, es ist nicht deine Familie.“ Es herrschte ein fast partnerschaftliches Vertrauen zwischen beiden, das aufgrund ihrer Freundschaft entstanden war, aber es überraschte ihn doch, dass seine Cousine das Thema der­maßen abwürgte.

Das Fahren fiel ihr immer schwerer und sie war unru­hig. Irgendwann bat sie, dass sie alle ruhig sein sollten. Man hörte nur noch das Handy. Aber nach einer Minute wollte Daniela mit einem weiteren Gerücht über dieselbe Frau das Thema wieder aufgreifen, und dann ja, entfuhr Laura ein maßloser Schrei: „Ruhe!“ Er weiß, wie nervös sie es macht, auf der Fernstraße zu fahren. Und es wur­de langsam Nacht. Auch wenn die Dämmerung gerade erst anbrach und es sich um eine fünfspurige beleuchtete Autobahn handelte, die so ausgestattet war, es mit einem Verkehr rund um die Uhr und in doppelter Geschwin­digkeit aufzunehmen, sagte Laura „Fernstraße“. Und sie sagte, dass es dunkel sei und dass sie nicht gerne nachts auf der Fernstraße fahre, sie stellte sich wie ein Idiot an, sah weder die Wegweiser noch die Schilder rechtzeitig.

Eine zurückgehaltene Wut entströmte ihren Poren. Sie erinnerte sich nicht einmal daran, wo sie abfahren muss­te, um Rocío nach Hause zu bringen, die sich angespro­chen fühlte und aus ihrem Sitz auffuhr und ihr Handy zuklappte. Alles schwieg. Man hörte nur das Rauschen des Fahrtwindes. Lara bat sie, ihr rechtzeitig Bescheid zu geben, wann sie von der Autobahn herunterfahren sollte. Und dass sie verdammt noch mal über irgendwas reden sollte oder Musik anmachen, denn genau so wie sie den Lärm nicht ertrug, ertrug sie auch nicht so viel Stille, die machte sie sogar noch nervöser.

Als das dritte Lied verklungen war, schaltete Rocío es ab, weil eine SMS ankam. Sie las sie, blickte auf und sagte, „es ist hier, die nächste Ausfahrt“. Lara hatte gerade noch Zeit, um über zwei Fahrspuren zu fahren und die Abfahrt zu nehmen. Als sie in der Nebenstraße angelangt waren, sagte Rocío, sie solle zuerst rechts abbiegen und dann links. Und dann anderthalb Kilometer geradeaus fahren. Sie sagte es auswendig, wandte ihren Blick nicht von der kleinen Anzeige ab. Ihre Finger waren damit beschäftigt, eine Antwort zu tippen. Man merkte ihr an, dass sie nicht

wusste, was sie schreiben sollte, dass sie ihre Antwort be­reute, dass sie wieder die ursprüngliche Nachricht las.

Agustín scannte sie mit seinem Blick, und er bemerk­te die Überraschung in ihrem Gesicht, als sie aufblickte und alles um sie herum sehr viel unsicherer geworden war, nicht das geringste Anzeichen einer geschlosse­nen Wohnanlage. „Sind wir nicht unter der Autobahn durchgefahren?“, fragte sie leicht verunsichert. Obwohl es sich um ein in der Nähe gelegenes Gebiet handelte, kam es ihr vollkommen fremd vor. „Sehr weit dürften wir jedenfalls nicht vom Weg abgekommen sein. Du hast gesagt, zuerst rechts, dann links.“ „Nein zuerst links, dann rechts.“ „Bist du dir sicher?“ schaltete sich Danie­la ein. „Ich fahre die Strecke jeden Tag.“ Daniela sagte, sie sollte geradeaus weiterfahren und die erste nach links fahren, vielleicht würde sie so wieder auf die Autobahn kommen, aber Rocío sagte Nein, es wäre besser, umzu­drehen und den gleichen Weg zurück zu nehmen, dass ihr die Gegend überhaupt nicht gefiele. Lara befand sich am Rand der Hysterie. Die drei schauten zum Fenster hinaus, so nah waren sie noch nie einem Slum gekom­men (auch wenn die Siedlung davon immer noch weit entfernt war). Man konnte keine Menschen sehen, aber es lag eine Feindseligkeit in der Luft.

Agustín wollte etwas sagen. Er schaffte nicht mal, den kurzen Namen seiner Cousine auszusprechen, bis die­se ihm unmissverständlich zu schweigen gebot. Daniela wollte auch etwas vorbringen, doch Lara schrie: „Wenn ihr die Klappe nicht haltet, kann ich nicht weiterfahren!“ Die beiden anderen sprachen weiter, als hätten sie nichts gehört, ihre hochtönenden Stimmen überlagerten sich, und dann trat Lara in die Bremsen und sagte, bis sie nicht stillhalten und sich einigen würden, fahre sie nicht wei­ter. Und sie brachte nicht nur den Wagen zum Stehen, sondern sie schaltete den Motor ab und zog den Schlüssel heraus, als würde sie ihn gleich herunterschlucken. Aber stattdessen drehte sie sich um und zeigte mit der Spitze des Schlüssels auf Agustín. „Die Schuld an allem hatte dein Alter, ich kann es immer noch nicht glauben.“

Es war ein derart unangebrachter, derart unangemesse­ner Kommentar seiner Cousine; er mag sie die ganze Zeit beschäftigt haben. Vielleicht war sie sogar nur deswegen auf ihn zugegangen, um mit ihm darüber zu sprechen. Sie hatte eingewilligt, ihn mitzunehmen, nur um irgendwann das Gespräch auf das Thema zu lenken. Aus einer der Hütten kam jemand heraus, mit langsamen, aber sicheren Schritten. „Warum fragen wir ihn nicht, wie wir von hier wieder wegkommen?“ „Kommt der zu uns?“ „Was hat er da, einen Knüppel?“ Rocío konnte nicht aufhören, Fra­gen anzuhäufen, eine nach der anderen, und jetzt baten die beiden Lara einhellig, sie möge doch bitte losfahren, egal in welche Richtung, sie solle den ersten Gang ein­legen und aufs Gas drücken, aber sie war dermaßen ein­geschnappt, dass sie sagte, sie würde sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie nicht wüsste, wo sie war und wo sie hinfahren müsste.

Agustín machte die Tür so auf, dass es ihnen gut vor­gekommen sein mag, als würde er sie dort allein lassen, und er ging vorne um das Auto herum, ohne den Blick zu heben, aber aus dem Augenwinkel schien es ihm, dass es jetzt drei, vier Typen waren, die sich näherten. Vielleicht kamen sie aus purer Neugier, wollten ein neues Auto aus der Nähe betrachten, mit drei Premium-Ladys darin, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten. Er öffnete die Fahrertür und Lara sprang auf und heulte erschrocken los, denn sie dachte, dass man sie jetzt wirklich ausrauben würde. Und als er sah, dass sie den Platz nicht freimachte, herrschte er sie seinerseits wie ein Dieb oder Entführer an. Sie quetschte sich nach hinten, zwängte sich auf den Platz neben dem Fenster. Ohne eine Sekunde zu zögern, startete Augustín den Wagen und wendete, um wieder auf die Autobahn zu fahren, und das Bild von Laras Hintern über der Handbremse zwischen den Sitzen hindurch­schlüpfend, brachte ihm wieder in Erinnerung, warum sie immer seine Lieblingscousine gewesen war.

Publicado en la antología Neues von Fluss (Noticias del río), editorial Lettrétage, Berlín, 2010.

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