Menschenwürde (Teil 2)
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
[Art. 1 Abastz 1 GG]
Als Menschenwürde versteht man die Vorstellung, dass alle Menschen unabhängig irgendwelchen Merkmalen wie etwa Herkunft, Geschlecht oder Alter denselben Wert haben, da sie sich alle durch ein dem Menschen einzig gegebenes schützenswertes Merkmal auszeichnen, nämlich die Würde. Seine Verankerung als erste Norm des Grundgesetzes ist eine bewusste Reaktion auf die massive Missachtung der Menschenwürde im Nationalsozialismus.
Die Menschenwürde und das Grundgesetz[↑]
Die Menschenwürde ist, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung immer wieder betont, die wichtigste Wertentscheidung des Grundgesetzes. Das Grundgesetz geht davon aus, dass die Menschenwürde dem Menschen durch seine bloße Existenz zu eigen ist. Die Menschenwürde kann dem Menschen daher auch nicht genommen werden kann, wohl aber kann der Achtungsanspruch verletzt werden, den jeder einzelne Mensch als Rechtspersönlichkeit hat und der ihm kraft seines Menschseins zukommt. Der Schutz der Menschenwürde bedeutet daher zunächst den Schutz vor der Verletzung dieses Achtungsanspruchs. Der Staat hat daher alles zu unterlassen, was die Menschenwürde beeinträchtigen könnte.
Die Menschenwürde ist damit zunächst ein Abwehrrecht gegen die öffentliche Gewalt selbst und zwar unabhängig davon, in welcher Ausprägung sie dem Menschen entgegentritt. Die Menschenwürde ist damit von allen Organen staatlicher Gewalt zu achten, von Bund, Ländern und Gemeinden, von Legislative, Exektuvie und Judikative, von öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Anstalten wie von Beliehenen. Die Staatsgewalt hat Angriffe auf die Menschenwürde sowohl rechtlich wie auch tatsächlich zu verhindern und entsprechende Vorkehrungen hiergegen zu treffen.
Daneben versteht das Grundgesetz die Menschenwürde aber auch als ein Leistungsrecht: Das Grundrecht auf Menschenwürde verpflichtet den Gesetzgeber und die vollziehende Gewalt, allgemeinverbindliche Normen zu erlassen, die den Schutz der Menschenwürde bestmöglich gewährleisten. Der Staat muss also nicht nur selber Eingriffe in die Würde der Menschen unterlassen, sondern muss – auch durch seine Gerichte – auch darauf hinwirken, dass sowohl die öffentliche Gewalt wie auch private Dritte die Menschenwürde eines jedes einzelnen Menschen achten.
Art. 1 Abs. 1 GG – und damit die Menschenwürde – ist seinerseits durch die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt und damit selbst dem Zugriff durch den verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen. Eine Änderung des Grundgesetzes, die den Grundsatz der Menschenwürde aufgeben sollte, ist daher unzulässig.
Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[↑]
Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff der Menschenwürde in zahlreichen Entscheidungen definiert. Hiernach bezeichnet die Menschenwürde den Wert- und Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Menschseins zukommt, unabhängig von seinen Eigenschaften, seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seinen Leistungen oder sozialem Status.
Im Verständnis des Bundesverfassungsgerichts bezieht nach der Ordnung des Grundgesetzes der Staat seine Legitimation allein daraus, dass er den Menschen konkret dient. Die Menschenwürde ist damit der oberste Grundwert und die Wurzel aller Grundrechte. Als einzige Verfassungsnorm gilt die Menschenwürde absolut, sie kann durch keine andere Norm beschränkt werden, auch nicht durch ein anders, von der Menschenwürde abgeleitetes Grundrecht.
Das Bundesverfassungsgericht versteht die Menschenwürde als ein Grundrecht, dass nach Art. 1 Abs. 3 GG die vollziehende Gewalt bindet ‑wörtlich gesehen würden nur die „nachfolgenden” Grundrechte, also nicht die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG, diese Bindung auslösen. So sind auch alle gesetzlichen Bestimmungen im Lichte der Bedeutung der Menschenwürde auszulegen, so dass eine Norm, die gegen die Menschenwürde verstößt, stets als verfassungswidrig einzustufen ist.
Das menschliche Leben, so das Bundesverfassungsgericht zuletzt im Jahr 2006 in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz[1], ist die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert[2]. Jeder Mensch besitzt als Person diese Würde, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen und seinen sozialen Status[3]. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt[4]. Das gilt unabhängig auch von der voraussichtlichen Dauer des individuellen menschlichen Lebens[5].
Dem Staat ist es im Hinblick auf dieses Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde einerseits untersagt, durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Andererseits ist er auch gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht gebietet es dem Staat und seinen Organen, sich schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen An- und Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren[6]. Ihren Grund hat auch diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet[7].
Was diese Verpflichtung für das staatliche Handeln konkret bedeutet, lässt sich nicht ein für allemal abschließend bestimmen[8]. Art. 1 Abs. 1 GG schützt den einzelnen Menschen nicht nur vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder durch den Staat selbst[9].
Jede quantifizierende Betrachtungsweise menschlichen Lebens ist ein Verstoß gegen die Menschenwürde, der Staat darf also nicht etwa viele Menschenleben gegen ein einzelnes abwägen. Jedes Menschenleben ist gleich wertvoll, jeder Mensch besitzt die gleiche Würde. Jeder einzelne hat daher einen Anspruch, dass sich der Staat schützend vor sein Leben stellt[1].
Die Menschenwürde in der deutschen Rechtswissenschaft[↑]
Einen starken Einfluss auf das Verständnis der Menschenwürde in der deutschen Rechtswissenschaft hätte zunächst die quasi naturrechtliche Einordnung durch Günter Dürig. Hiernach ist jeder Mensch ein Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten.“, was aktuell allerdings relativiert wir. So beschreibt etwa der Bonner Staatsrechtsprofessor Matthias Herdegen: „Trotz des kategorialen Würdeanspruchs aller Menschen sind Art und Maß des Würdeschutzes für Differenzierungen durchaus offen, die den konkreten Umständen Rechnung tragen.”
Auch dass Bundesverfassungsgericht hat diesen Gedanken 2006 in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz[1] noch einmal aufgegriffen. Danach ist nach der Wertordnung des Grundgesetzes der Mensch ein Wesen, das „in Freiheit (über) sich selbst bestimmt.“
Die Menschenwürde des Art. 1 GG wird damit verstanden sowohl als Wesensmerkmal eines jeden Menschen wie auch als Gestaltungsauftrag an den Staat. Adressat der Menschenwürde ist danaben aber auch jeder Einzelne: Die Annahme sittlicher Autonomie des Menschen führt zum Recht eines jeden Menschen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit[10].
Dieses doppelte Verständnis der Menschenwürde als unantastbares Wesensmerkmal und als Gestaltungsauftrag führt dabei zu einem Spannungsverhältnis: Als Wesensmerkmal ist die Menschenwürde unveräußerlich und stets gegeben, als Gestaltungsauftrag muss die Menschenwürde hergestellt und erworben werden. Umstritten ist in diesem Zusammenhang auch, ob das Grundgesetz mit dem Postulat der Unantastbarkeit das Bestehen eines Sachverhalts formuliert („ist unantastbar“) oder aber das Bestehen des Sachverhalts nur suggeriert wird. So versteht etwa Dürig die Bestimmung des Art. 1 Abs. 1 GG so, dass das Grundgesetz lediglich unter der Suggestion einer Tatsache eine Forderung von höchster Stärke formulieren wollte, so dass die Bestimmung des Art. 1 Abs. 1 GG demnach zu lesen ist, dass die Menschenwürde eines jeden Menschen von staatlicher Gewalt und anderen unter keinen Umständen angetastet werden darf[11]. Genau genommen wird der Streit damit jedoch nur verlagert, denn mit dem hiermit verbundenen implizierten Eingeständnis, dass die Menschenwürde angetastet und damit auch eingeschränkt werden kann, wird die Auffassung vom Wesensmerkmal verlassen.
Die „Objektformel” des Bundesverfassungsgerichts[↑]
Aus der Menschenwürde ergibt sich nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts der Anspruch eines jeden Menschen, in allen staatlichen Verfahren stets als Subjekt und nie als bloßes Objekt behandelt zu werden. jeder einzelne Mensch hat damit ein Mitwirkungsrecht, er muss staatliches Verhalten, das ihn betrifft, selber beeinflussen können.
Die nach dieser „Objektformel” für den Gesetzgeber bindenden ethisch-rechtlichen Maßstäbe hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt im Februar 2006 in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz[1] beschrieben: Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden[12], schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen[13]. Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt[14].
Das Bundesverfassungsgericht sieht dabei die Würde eines jeden einzelnen Menschen absolut, menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen den gleichen verfassungsrechtlichen Schutz:
Auch die Einschätzung, diejenigen, die sich als Unbeteiligte an Bord eines Luftfahrzeugs aufhalten, das im Sinne des § 14 Abs. 3 LuftSiG gegen das Leben anderer Menschen eingesetzt werden soll, seien ohnehin dem Tode geweiht, vermag der mit einer Einsatzmaßnahme nach dieser Vorschrift im Regelfall verbundenen Tötung unschuldiger Menschen in einer für sie ausweglosen Lage nicht den Charakter eines Verstoßes gegen den Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen. Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz. Wer dies leugnet oder in Frage stellt, verwehrt denjenigen, die sich wie die Opfer einer Flugzeugentführung in einer für sie alternativlosen Notsituation befinden, gerade die Achtung, die ihnen um ihrer menschlichen Würde willen gebührt.[1]
Personaler und räumlicher Schutzbereich der Menschenwürde[↑]
Die Schutzverpflichtung des Staates gilt nicht nur gegenüber seinen eigenen Staatsbürgern sondern gegenüber allen Menschen, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes, also auf deutschem Staatsgebiet, aufhalten. Sie gilt darüber hinaus auch für alle außerhalb des deutschen Staatsgebiets vorgenommene Akte deutscher Staatsgewalt, also beispielsweise auch für deutsche Botschaften und Konsulate, in denen etwa Bürgerkriegsflüchtline Zuflucht suchen, aber auch für Schiffen unter deutscher Flagge, für ex-territoriale Einrichtungen der Bundeswehr, oder für die Handlungen eines im Ausland tätigen Soldaten oder Mitarbeiter eines deutschen Nachrichtendiensten, selbst dann, wenn dieser Einsatz nach dem Recht des Einsatzortes illegal ist.
Das Grundgesetz verpflichtet den Staat darüber hinaus, sich weltweit für das Prinzip der Menschenrechte einzusetzen, wobei allerdings die Entscheidung darüber, in welcher Form und welchem Umfang dies geschieht, im Ermessen der Bundesregierung und des Bundesgesetzgebers liegt. So ist die Bundesrepublik etwa internationalen Verträgen beigetreten, ist Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention und hat sich verpflichtet, Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu beachten.
Artikel 1 GG hat auch eine postmortale Wirkung, gilt also auch für das Andenken und den Ruf des Toten. So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Mephisto-Entscheidung[15] ausdrücklich betont, dass der Mensch auch nach seinem Tod nicht seinen persönlichen Achtungsanspruch verliert.
- BVerfG, Urteil vom 15.02.2006 – 1 BvR 357/05[↩][↩][↩][↩][↩]
- vgl. BVerfGE 39, 1, 42; 72, 105, 115; 109, 279, 311[↩]
- vgl. BVerfGE 87, 209, 228; 96, 375, 399[↩]
- vgl. BVerfGE 87, 209, 228[↩]
- vgl. BVerfGE 30, 173, 194 zum Anspruch des Menschen auf Achtung seiner Würde selbst nach dem Tod[↩]
- vgl. BVerfGE 39, 1, 42; 46, 160, 164; 56, 54, 73[↩]
- vgl. BVerfGE 46, 160, 164; 49, 89, 142; 88, 203, 251[↩]
- vgl. BVerfGE 45, 187, 229; 96, 375, 399 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 1, 97, 104; 107, 275, 284; 109, 279, 312[↩]
- vgl. Hesselberger, Das Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 2[↩]
- vgl. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, 1956[↩]
- vgl. BVerfGE 45, 187, 227 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 27, 1, 6; 45, 187, 228; 96, 375, 399[↩]
- vgl. BVerfGE 30, 1, 26; 87, 209, 228; 96, 375, 399), indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt ((vgl. BVerfGE 30, 1, 26; 109, 279, 312 f.). Wann eine solche Behandlung vorliegt, ist im Einzelfall mit Blick auf die spezifische Situation zu konkretisieren, in der es zum Konfliktfall kommen kann ((vgl. BVerfGE 30, 1, 25; 109, 279, 311[↩]
- BVerfGE 30, 173[↩]