Wolfgang Gust

Eigene Buchbesprechungen: Jakob Künzler: Im Lande des Blutes und der Tränen – Erlebnisse in Mesopotamien während des Weltkrieges (1914-1918); herausgegeben von Hans-Lukas Kieser; Chronos Verlag, Zürich, 1999.
Hans-Lukas Kieser (Hg.): Die armenische Frage und die Schweiz (1896-1923); Chronos Verlag; Zürich, 1999.



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Wie kein zweites Land der Welt erfüllte die Schweiz in Krisenzeiten, besonders während eines Weltkriegs, zwei Aufgaben, die sonst fast überall den nationalen Interessen zum Opfer fielen: Humanitäre Hilfe, wovon noch heute die vielen Zentren internationaler Organisationen vor allem in Genf zeugen, sowie ungehinderten Zugang zu Informationen. Die bis heute gewahrte Neutralität sowie eine Tradition als Zufluchtsort unterdrückter Eliten garantierten den Sonderstatus.

Exemplarisch spielten Schweizer eine solche Rolle gegenüber den Armeniern im Osmanischen Reich, als diese seit Ende des 19. Jahrhunderts Opfer massenhafter Verbrechen wurden, besonders aber im Ersten Weltkrieg, als die jungtürkischen Herrscher unter Duldung ihrer deutschen Verbündeten die Armenier als Volk fast vollständig vernichteten. Über die Bedeutung der Schweiz für die Armenier und besonders des Schweizer Jakob Künzler berichtet der promovierte Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser in seinen beiden Büchern.

Künzler hatte 1921 seine Erlebnisse im südostanatolischen Urfa, wo er jahrzehntelang praktisch als Arzt (er war eigentlich nur Krankenpfleger) gewirkt hatte, im Tempelverlag veröffentlicht. Es war und ist bis heute einer der wenigen Augenzeugen-Berichte über das Völkermordgeschehen in dieser Stadt. Weil das Buch selbst in Bibliotheken nur noch schwer zu bekommen ist, macht ein Reprint besonderen Sinn. Kieser fügte dem Bericht weitere Schriften Künzlers hinzu, darunter zwei bislang unveröffentlichte, die dieser selbst als Fortsetzung seines Buches bezeichnet hatte. Der Herausgeber veröffentlicht mutig auch einen Artikel Künzlers, der, so Kieser, ”fragwürdige Gedankengänge” enthält. Die Armenier, so Künzler in einer Nachbetrachtung 1928, seien die von den Türken am meisten bevorzugte nicht-muslimische Völkergemeinde gewesen. Statt aber treu zu den Türken zu halten, gibt Künzler die angeblichen Gedanken einer Minderheit von Armeniern wider, ”haben wir unser Ohr den Europäern geschenkt mit dem fürchterlichen Resultat der beinahe völligen Vernichtung”. Treue zu den Türken – das waren seinerzeit auch die Ratschläge der meisten deutschen offiziellen und karitativen Vertreter. Geholfen hat diese Treue jenen, die sie befolgten, so wenig wie jenen, die gegen die Türken rebellierten. Ob ein Treueschwur der osmanischen Armenier für die Türkei vor Beginn des Weltkriegs ihr Los gemildert hätte, ist zweifelhaft – mit Sicherheit aber hätte eine solche Entscheidung die beiderseits der türkisch-russischen Grenze siedelnden Armenier zerrissen.

Im Sammelband über die Schweiz und ”die armenische Frage”, wie damals selbst noch das Völkermordgeschehen euphemistisch umschrieben wurde, stehen auch Artikel, die sich nicht mit der Schweiz, wohl aber mit den Armeniern auseinandersetzen, wie der lesenswerte Aufsatz von Jelle Verheij über die Massaker an den Armeniern 1894 bis 1896 oder die eher psychologische Deutung der heutigen Tabuisierung des Völkermords durch die Türken von Taner Akçam. Und auch ein spannendes Stück über die noch viel zu selten behandelten armenisch-kurdischen Beziehungen vom im südostanatolischen Diarbekir geborenen Historiker Hamit Bozarslan bereichert das Buch.

Im Zentrum der Untersuchung steht die Schweiz. Sie zog armenische Intellektuelle an, wie Anahide und Talin Ter Minassian in ihren Beiträgen nachweisen. Junge armenische Revolutionäre gründeten 1887 in Genf die sozialistische Hintschak-Partei, und auch die konkurrierende Daschnak-Partei schlug dort ihr Zentrum für den Westen auf. In Genf erschien bis zum Weltkrieg das wichtigste Organ der Daschnaken, Droschak, sowie eine lange Reihe Bücher, fast ausschließlich in Armenisch. Denn am Lac Leman genossen die jungen Armenier eine Freiheit, die ihnen weder Rußland noch das Osmanische Reich gewährte, aber sie genossen sie zumeist nur unter sich. ”Die armenischen Studenten, die hier seit 3 oder 4 Jahren leben”, so die Armenierin Vertanesse Papazian in einem Brief, ”sind unfähig auch nur einen korrekten Satz in korrektem Französisch zu verfassen”.

Propagandistische Hilfe bekamen die armenischen Studenten von einer jungen Zürcher Kommilitonin, Rosa Luxemburg, die gegen die armenischen Greuel im Osmanischen Reich protestierte – einer Episode, die, so Kieser, bislang noch nicht untersucht ist - und sich vom Chefredakteur des Vorwärts, Wilhelm Liebknecht, dem Vater ihres späteren Schicksalsgefährten, nicht nur falsch ansprechen, wie Hermann Goltz in seinem Beitrag beisteuerte, sondern auch rüffeln lassen mußte: ”Fräulein Luxemberg ... fände vielleicht ein fruchtbareres Feld, wenn sie sich mit den russischen Greueln in Polen und Rußland selbst beschäftigte”. Sohn Karl sah später die Sache anders und fragte - als einer der ganz wenigen deutschen Politiker – im Reichstag nach den Armeniern, deren Schicksal freilich schon besiegelt war.

Für die Überlebenden des ersten Völkermords dieses Jahrhunderts war die Schweiz, neben den reichen Vereinigten Staaten, eines der wichtigsten Spenderländer, wie schon nach den Armenier-Massakern von 1894 bis 1896. Und in der Schweiz selbst gab es ein Gefälle, wie Christoph Dinkel in seinem Beitrag herausarbeitete, das vermutlich mit der Nähe Frankreichs und seiner bereits entwickelten Menschenrechtsphilosophie einerseits und der eines autokratischen Deutschland andererseits zusammenhing, wo dergleichen Regungen zu jener Zeit – und auch noch später –gern als ”Gefühlsduselei” abgetan wurde.

Nach den schweren Armeniermassakern unter dem vom deutschen Kaiser fast als persönlichen Freund empfundenem Sultan Abdul Hamid sammelten empörte Schweizer die erstaunliche Zahl von 453015 Unterschriften für eine Petition, die anfangs sogar eine Intervention bei den Großmächten verlangte. 39 Prozent der Stimmen (und 56 Prozent der Hilfsgelder) kamen aus den rein französischsprachigen Kantonen, zwei Drittel sogar, wenn die teilweise französischsprachigen Kantone hinzugezählt werden. Die deutschsprachige Schweiz holte in der relativ ruhigen Zeit auf und brachte es 1912 auf fast 80 Prozent der Spenden, doch in der wirklichen Not legten die Welschen dann wieder nach und brachten während des Völkermords weit mehr als die Hälfte aller Spenden auf.

Auch im Sammelband spielen Künzler und Urfa eine wichtige Rolle, als beispielsweise nach der Vernichtung der Armenier massenhaft von den Jungtürken vertriebene Kurden durch die Stadt zogen und ebenso litten. Zwar durfte niemand diese moslemischen Flüchtlinge schikanieren, doch das half ihnen wenig. ”Ein Grossteil verhungerte oder erfror”, schreibt Kieser.

Das Schicksal von Kurden vor und im Ersten Weltkrieg ist bislang wenig erforscht. Erfreuliche Ansätze, diese Lücke zu schließen, finden sich in Kiesers Büchern. Auch andere noch recht weiße Flecken in der Geschichte europäischer Hilfe während des Völkermords – das große Lebenswerk der Basler Schwester Beatrice Rohner beispielsweise – versprechen mit Fakten und Farbe gefüllt zu werden. Diese stillen Helden und ihre Erkenntnisse sind es wert, auch 80 Jahre nach ihrem Wirken noch an die Öffentlichkeit gebracht zu werden.

”Es war den Missionen nicht vergönnt”, schreibt Kieser, ”ihr Wissen ... in einer solchen Weise an die Öffentlichkeit zu bringen, dass wichtige Trauerarbeit , Bekenntnis-, Schuld- und Entschuldigungsrituale wie etwa nach dem jüdischen Holocaust in Gang kamen”. Wo noch immer von deutschen Historikern trotz bester Informationslage fast nichts zum Komplex Völkermord an den Armeniern beigetragen worden ist, stimmen die Signale aus der jungen Schweizer Historikerzunft optimistisch.

[Erschienen in der "Armenisch-Deutschen-Korrespondenz" Nr. 106, Jg 1999/Heft 4]