Arbeitslosenkomitees: Kritik und Ergänzung des Sozialstaats

Im Zuge der Diskussion um neue Klassenpolitik und mit dem Ziel, die Verankerung in der Klasse zu verstärken, orientieren sich momentan viele Linke an Basisarbeit und autonomer Organisierung. Alle diese Projekte, Netzwerke und Organisationen müssen sich früher oder später mit dem stets wiederkehrenden Spannungsverhältnis zwischen Selbstorganisation und der Integration in den Sozialstaat auseinandersetzen. Unser Autor hat im Sozialarchiv gestöbert, um die Erfahrungen der schweizweiten Arbeitslosenkomitees der Krisenzeiten der 1970er- und 1990er-Jahre nachzuzeichnen.

Um Arbeitslose bei ihrem Gang durch den bürokratischen Dschungel des Sozialstaats zu unterstützen, gibt es heute in der ganzen Schweiz verschiedene Hilfsangebote. Praktisch alle sind institutionalisiert und professionalisiert, meistens werden sie vom Staat oder religiösen Organisationen subventioniert und sind auf Spenden angewiesen. Doch das war nicht immer so. Die Selbstorganisation der Arbeitslosen bewegte sich in den 1970er und den 1980er Jahren ausserhalb des professionellen Rahmens, bevor es vor allem in den 1990er Jahren zur Institutionalisierung kam. Die Arbeitslosenkomitees waren ein Phänomen kollektiver Organisierung und fungierten in den meisten Fällen als Opposition, Korrektiv und Ergänzung zum Sozialstaat.

Im Kapitalismus sind wir dem Markt ausgeliefert. Die ökonomischen Strukturen sind ein soziales Gewaltverhältnis und zwingen uns dazu, unsere Lebenszeit dem Kapital zu verkaufen.Wer nicht erfolgreich seine «Haut zu Markte tragen» kann, wie es Marx ausdrückte, dem droht materielle Not und eine rapide Verschlechterung der Lebensverhältnisse: Fällt die Lohnarbeit weg, vermehren sich die Existenznöte und viele Menschen wären ohne Unterstützung ihrem Schicksal überlassen. Der Sozialstaat federt in der gegenwärtigen Produktionsform das schlimmste Übel derjenigen Menschen ab, die ein Anrecht auf Unterstützung haben. Doch zugleich individualisiert die staatliche Wohlfahrt gesellschaftliche Probleme: Jede:r ist selbst dafür zuständig, sich durch die staatliche Bürokratie zu schlagen und finanzielle Hilfe zu einzufordern.

Neben der finanziellen Unsicherheit, die mit dem Verlust der Arbeit einhergeht, bringt Arbeitslosigkeit auch gesellschaftliche Stigmatisierung mit sich und kann psychisches Leiden zur Folge haben. In einer Gesellschaft, die sich durch Arbeit, Individualismus und Leistung definiert, kommt für viele der Verlust des Arbeitsplatzes einem Scheitern gleich. «Es scheint, ich bin nichts mehr wert, einfach weggestellt!» schreibt ein:e anonyme:r Autor:in des Zürcher Arbeitslosenkomitees in den 1990er Jahren in einem Gedicht namens «Arbeitslos».

RAV: Scham und Schikanen

Neoliberale Ideologiefragmente wie die Humankapitaltheorie verstärken die Schamgefühle der Arbeitslosen, indem sie behauptet, dass ein guter Arbeitsplatz und die Höhe des Lohnes vom Willen und der Anstrengung des einzelnen Subjektes abhängt. Eine unsichere finanzielle Lage und sinkender Selbstwert können in Angst, soziale Isolation und psychische Probleme umschlagen. Eine 2020 publizierte Studie vom Schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan) führt Arbeitslosigkeit als Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Erkrankungen auf und hält fest, dass der «überwiegende Teil gesundheitlicher Ungleichheit in einer Bevölkerung […] sich durch sozioökonomische Unterschiede erklären [lässt].»

Demonstration in Zürich, ca. 1990 (Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Wer schon einmal arbeitslos war, weiss: Die staatlichen Auffangstrukturen sorgen zwar für eine gewisse finanzielle Erleichterung, gehen aber mit Repression und Disziplinierung einher. Viele Menschen fühlen sich durch sozialstaatliche Akteur:innen bevormundet und herabgewürdigt. Jeder noch so kleine Fehler sei es bezüglich der Anzahl von Arbeitsbemühungen, der Einhaltung von Terminen oder wegen falsch ausgefüllten oder zu spät eingereichten Formularen, wird mit der Einstellung von Taggeldern bestraft. Ob Menschen dadurch in finanzielle Not geraten, interessiert die Behörden nicht. Zudem ist man der Willkür und den Schikanen der RAV-Berater:innen ausgeliefert, die die gesetzliche Macht haben, jeder arbeitslosen Person eine «zumutbare Arbeit» oder Beschäftigungsmassnahmen aufzubürden.

Wer die deutsche Sprache nicht beherrschst, wem es schwerfällt, mit den bürokratischen Hürden klarzukommen oder mit digitalen Kommunikationsmitteln umzugehen, hat es noch viel schwerer. Hinzu kommt der entwürdigende Umgang den viele Menschen im RAV erleben. Viele RAV-Berater:innen vermitteln den Menschen das Gefühl, dass sie zu faul seien, um einer Arbeit nachzugehen. Dieses Narrativ wird von rechten Verbänden und Parteien seit Jahrzehnten gestärkt. Damit wird ein gesellschaftlicher Druck erzeugt, unabhängig von Arbeitsverhältnissen und Qualifikationen jegliche Arbeit anzunehmen. Das Zürcher Arbeitslosenkomitee schrieb hierzu 1992: «Eine Politik der Arbeitslosigkeit ist eine Politik der Entmündigung. Der Nachweis, dass man sich um Arbeit bemüht hat, ist ein erster Schritt zu dieser Entmündigung und Entwürdigung der Betroffenen. Die Angst vor dieser Entmündigung macht die Menschen an ihren Arbeitsplätzen stumm und jene auf Arbeitssuche einsam.» Diese Kritik an der repressiven Seite des Sozialstaats ist nichts Neues. Sie ging stets mit wirtschaftlichen Krisenerscheinungen einher.

Nachkriegsboom und Konjunktureinbruch

Die Arbeitslosigkeit verbreitet sich vor allem in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs oder der Krise. Im 20. Jahrhundert war einer der stärksten wirtschaftlichen Konjunktureinbrüchen in den 1970er auszumachen. Dabei schien in der Nachkriegszeit die Wirtschaft zunächst zu florieren, allerlei Apologet:innen des Kapitalismus sahen in diesen «goldenen Jahren» einen Beweis für den endgültigen Siegeszug des Kapitalismus als wohlstandsförderndes Wirtschaftssystem. Die Schweizer Wirtschaft der Nachkriegszeit war kurz nach Kriegsende tatsächlich im Aufschwung. 1946 herrschte praktisch Vollbeschäftigung und die brummende Wirtschaft brauchte dringend billige Arbeitskräfte. Zu diesem Zweck wurden in den darauf folgenden Jahren hunderttausende Saisonniers rekrutiert, vor allem aus Italien. Diese arbeiteten meistens in der verarbeitenden Industrie, der Baubranche, der Gastronomie oder in der Landwirtschaft. Für die Saisonniers galt das Rotationsprinzip, das heisst sie erhielten nur befristete Arbeitsbewilligungen für maximal elfeinhalb Monate, ab 1973 sogar nur noch für neun Monate. Sie hatten weder Anspruch auf Sozialleistungen noch auf Familiennachzug und mussten meistens, segregiert von den Schweizer Arbeiter:innen, in heruntergekommenen Baracken hausen. Nach ihrem Arbeitseinsatz wurden sie wieder in ihre Heimatländer geschickt. Bereits hier zeichnete sich ab, was auch Jahre später noch die Devise des Umgangs mit der Migration sein sollte: Die Migration soll sich nach den Anforderungen des Kapitals richten. Zugleich war das Saisonnierstatut auch eine Massnahme, um – wie es im politischen Diskurs damals bezeichnet wurde – «die ausländische Überbevölkerung» zu bekämpfen.

(Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Der stabile und florierende Zustand der Nachkriegswirtschaft spiegelte sich nicht nur im Bedarf an neuen, billigen und entrechteten Arbeitskräften, sondern auch im Konsum. Haushaltsgeräte und Autos läuteten die Ära des Massenkonsums ein und der Verbrauch von Erdölbrennstoffen stieg massiv an. Die Arbeiter:innen nutzten den wirtschaftlichen Aufschwung ihrerseits , um höhere Löhne und bessere Ferienregelungen durchzusetzen. Insbesondere in der Textilindustrie und im Baugewerbe kam es zu verschiedenen Kämpfen.

In den 1970er Jahren kam es aufgrund der Erdölpreiskrise zu einem Konjunktureinbruch und zu einer starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Fast elf Prozent der Arbeitsplätze gingen verloren. Dass die Arbeitslosenstatistik jener Zeit die zunehmende Arbeitslosigkeit nicht widerspiegelt, ist darauf zurückzuführen, dass ein grosser Teil der Arbeitslosen Gastarbeiter:innen waren. Ihnen wurde mit der Kündigung auch das Bleiberecht entzogen, was dazu führte, dass die Arbeitslosigkeit ins Ausland «exportiert» werden konnte. Frauen hingegen wurden während dem Konjunktureinbruch wieder «zurück an den Herd» geschickt. 

Als Antwort auf die Krise und die steigende Zahl der Arbeitslosen wurde die schweizweite obligatorische und lohnprozentual finanzierte Arbeitslosenversicherung eingeführt. Im Jahr 1976 nahmen die Stimmberechtigten die vom Bundesrat vorgeschlagene Neukonzeption der Arbeitslosenversicherung mit fast siebzig Prozent an. Zuvor gab es keine obligatorische Arbeitslosenkasse, man konnte sich nur bei den Gewerkschaften und bei privaten Arbeitslosenkassen freiwillig versichern lassen.

Die Arbeitslosenkomitees der 1970er-Jahre

Die ersten Arbeitslosenkomitees bildeten sich in den 1930er Jahren als Antwort auf die Auswirkungen der 1929 eintretenden Weltwirtschaftskrise heraus. Sie konnten aber keine politische Schlagkraft entwickeln und verschwanden schnell wieder. In den 1970er Jahren wurden sie angesichts der grassierenden Arbeitslosigkeit wiederbelebt. Inspiriert wurden sie durch den Aufschwung der neuen Linken im Zuge der 1968er-Bewegung. So erwähnte der Staatsschutz in einer Fiche vom Januar 1976, dass «viele aus linksextremen Organisationen» an den Arbeitslosentreffen teilnahmen.

Die Historikerin Anina Zahn legt in ihrem 2021 erschienenen Buch «Wider die Arbeitslosigkeit» dar, dass sich die Arbeitslosenkomitees durch ihre Autonomie und die Selbstorganisation der betroffenen Menschen, die als Industriearbeiter:innen oder Angestellte ihr Geld verdient hatten. Die Komitees verbreiteten sich in Zürich, Basel, Biel, Genf, Aarau, Lausanne, Bern, Thun, Delémont, Solothurn und Fribourg. Ihre Aktions- und Organisationsformen waren verschieden. Meistens waren sie als Vereine eingetragen und organisierten Demonstrationen, Rechtsberatungen, Petitionen, Besetzungen und publizierten Zeitungen. Im Jahr 1976 besetzte das Arbeitslosenkomitee Biel beispielsweise das Arbeitsamt, um gegen verspätete Auszahlungen von Arbeitslosentaggeldern zu protestieren, ein Jahr später wurde in Genf das Arbeitsamt besetzt, um gegen gestrichene Taggelder zu protestieren. Solche Aktionen waren oft erfolgreich und konnten eine unmittelbare Verbesserung für einzelne Arbeitslose erreichen.

Gemeinsam war allen Komitees, dass sie Arbeitslosigkeit nicht als individuelles sondern als gesellschaftliches Problem verstanden. Die Komitees sollten die Möglichkeit eröffnen, das Problem der Arbeitslosigkeit kollektiv zu politisieren und sozialstaatliche Massnahmen zu kritisieren. Die Arbeitslosenkomitees lancierten im März 1976 die «Nationale Petition der Arbeitslosen an den Bundesrat», für die sie fast elftausend Unterschriften sammelten. Mit der Petition forderten sie verschiedene Anpassungen und Veränderungen: Unbegrenzten Taggeldbezug, volle Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit, Finanzierung der Arbeitslosenversicherung durch die Unternehmenssteuer statt durch Abzug bei den Löhnen, Arbeitslosengeld für ausländische Arbeitskräfte und Arbeitslosengeld ohne Wartefrist. Die Petition wurde vom Volkswirtschaftsdepartement abgelehnt.

Demonstration von Arbeitslosen vor dem Bundeshaus in Bern, 1993 (Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Lange blieben die Arbeitslosenkomitees jedoch nicht erhalten. Die starke Fluktuation bei den Mitgliedern (viele zogen sich zurück, sobald sie eine Arbeit gefunden hatten), die mangelnde Unterstützung durch bereits länger bestehende Organisationen und fehlende Ressourcen führten dazu, dass viele Komitees keine Versammlungsorte hatten und die grosse Heterogenität der Meinungen innerhalb der Komitees eine klare politische Ausrichtung erschwerte. Viele Arbeitslosenkomitees der 1970er verschwanden wenige Jahre nach ihrer Entstehung. Nur wo die Arbeitslosenkomitees von bereits etablierten Organisationen, wie Gewerkschaften, christlichen Organisationen oder sogar von staatlichen Institutionen – letzteres vor allem ab den 1990er Jahren – unterstützt wurden, konnten sie über längere Zeit bestehen bleiben.

Im Jahr 1980 war die Association de Défense des Chômeurs (ADC) in Genf der letzte verbleibende Arbeitslosenzusammenschluss. Doch auch beim Genfer ADC zeigten sich Probleme, die vielen Menschen, die sich mit Basisarbeit beschäftigen, bekannt vorkommen dürften: Beratungsangebote wurden zwar genutzt, aber nur wenige Leute interessierten sich für eine längerfristige Organisierung. Es entstand nur selten eine breit abgestützte gegenseitige Hilfe von Betroffenen für Betroffene. Zumeist konnte die Hierarchie zwischen Beratenden und Hilfesuchenden nicht aufgelöst werden. Dennoch fungierte der Treffpunkt als Austauschort unter Arbeitslosen, auch wenn viele keine weitere Verantwortung für die Räumlichkeiten und die Organisation übernahmen. Der Sprung von individueller Hilfe zu kollektiven Aktionen gelang der ADC Genf nur selten.

Die zwei Jahre später von Anarchist:innen, Linken und Linksradikalen gegründete ADC La Chaux-de-Fonds versuchte die Perspektive der gegenseitigen Hilfe und der Selbstverwaltung ins Zentrum zu stellen. Neben den Beratungen, den Informationsanlässen und der öffentlichen Mobilisierung für Gesetzesänderungen organisierte sie auch gemeinsame Essen und baute eine Kooperative auf, die den Arbeitslosen verschiedene temporäre Arbeitsstellen verschaffte. Die ADC La Chaux-de-Fonds grenzte sich dabei von Wohltätigkeitsorganisationen ab. In ihrem Selbstverständnis beschrieb sie das Arbeitslosenkomitee als Mittel, um durch Selbstorganisation mit der Ohnmacht und der sozialen Isolation zu brechen. Die ADC La Chaux-de-Fonds blieb bis 1988 bestehen, sah sich dann aber mit ähnlichen Problemen wie die ADC Genf konfrontiert.

Die 1980er Jahre und das Basler Arbeitslosenkomitee

In den 1980er Jahren beteiligten sich viel mehr Migrant:innen an den Arbeitslosenkomitees, da Gesetzesänderungen es dem Schweizer Kapital verunmöglichten, arbeitslose Gastarbeiter:innen einfach wieder in ihre Heimatländer zu schicken. Doch als die Arbeitslosenzahlen wieder stiegen, stellten die vom Andrang überforderten Arbeitsämter weder Übersetzer:innen noch übersetzte Formulare zur Verfügung. Hinzu kam, dass die Kontrollmechanismen des Arbeitsamts zugleich Mobilisierungs- und Vernetzungsmöglichkeiten mit sich brachten: Während heute meistens einmal im Monat ein Kontrollgespräch im RAV stattfindet, mussten die Arbeitslosen in den 1980er Jahren in den meisten Kantonen zweimal pro Woche beim Arbeitsamt vorsprechen, in Basel musste man sogar dreimal pro Woche «stempeln gehen». Der Gang zu Arbeitsamt war in dieser Hinsicht auch eine Begegnungsmöglichkeit mit Menschen in derselben Lage, was zu viel Austausch und Debatten vor dem Arbeitsamt führte und die Vereinzelung durchbrach.

Gemeinsam stempeln gehen – Die Schlangen vor der Arbeitslosenkasse ermöglichten Kontakt und Organisierung (Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Beispielsweise gründete sich im Jahr 1984 auf Initiative von Arbeitslosen, die in der Anti-Atom Bewegung und der autonomen Szene aktiv waren, das Arbeitskomitee Basel (AKB), dessen Beratungsangebot bis heute unter dem Namen «Kontaktstelle für Arbeitslose Basel» weiterbesteht. Das AKB verteilte Flyer und knüpfte Kontakte in den Warteschlangen vor dem Arbeitsamt – ein Vorgehen, dass bis in die 1990er Jahre verbreitet war. Zum Gründungstreffen des Komitees kamen über achtzig Menschen, darunter viele Migrant:innen. In den einige Monate später ausgearbeiteten Statuten des AKB wurde festgehalten, dass die «Beratung und Betreuung von Arbeitslosen, insbesondere auch von türkischen, spanischen, italienischen und anderen ausländischen Kollegen-innen[sic]» im Zentrum stehen sollte. Auf der Grundlage von Selbsthilfe und Solidarität sollten die «basisdemokratischen Bestrebungen von Arbeitslosen […] unterstützt und gefördert werden». Dafür stellte das AKB im Juni 1984 ohne Bewilligung der Behörden einen Bauwagen vor das Arbeitsamt und bot kostenlose Beratungen an. Die Beratungsstelle konnte jedoch nur dank der finanziellen und organisatorischen Unterstützung von Gewerkschaften und des Basler Industriepfarramts weiterbestehen. Auch wenn im Jahr 1986 die Arbeitslosenzahlen wieder sanken, suchten viele Menschen die Beratungsstelle weiterhin auf. Doch genauso wie viele andere Komitees, konnte das AKB ohne finanzielle Unterstützung, Professionalisierung und angestellten Berater:innen den vielen Beratungssuchenden nicht gerecht werden.

Die Krise der 1990er

Gegen Ende der 1980er Jahre sank die Arbeitslosenquote, dieser Zustand dauerte jedoch nicht lange an. Zu Beginn der 1990er Jahre schlitterte die Schweizer Wirtschaft erneut in eine langjährige Rezession, die Zahl der Arbeitslosen schnellte wieder in die Höhe. Bis 1994 verzehnfachte sie sich gegenüber dem Jahr 1990 und im Jahr 1997 betrug die Arbeitslosenquote 5,7 Prozent, was über 206.000 Arbeitslosen entsprach. Betroffen waren vor allem prekär Beschäftigte, die für Temporärfirmen arbeiteten, die Krise dehnte sich jedoh auf weitere Branchen aus. In dieser Situation reaktivierten sich schweizweit viele Arbeitslosenkomitees und sahen sich schnell mit ähnlichen Problemen konfrontiert, wie in den Jahrzehnten zuvor.

In der ADC Genf gab es in den 1990er Jahren in Diskussionen über die Ausrichtung der Komitees. Während sich einige auf die Professionalisierung der Beratungen fokussieren wollten und darin bereits einen politischen Akt sahen, empfanden andere die Beratungen als karitativen oder sogar paternalistischen Akt, der sich auf Probleme von Einzelnen fokussierte und keine gesellschaftliche Perspektive anvisierte. Letztgenannte Position forderte darum die Hinwendung zu mehr direkten Aktionen, Mobilisierungen und kollektiven Aktivitäten, wie beispielsweise ein tägliches Frühstück für alle. Schliesslich wurde entschieden, sich sowohl auf Hilfsangebote als auch auf Mobilisierungen zu fokussieren, was einen gewissen Erfolg mit sich brachte: Hatte die ADC Genf 1992 noch sechzig Mitglieder, waren es 1994 schon fünfhundert.

In den 1990er Jahren wurde die Mehrheit der Arbeitslosenkomitees institutionalisiert und in vielen Fällen erhielten sie eine Teilfinanzierung durch den Staat, zum Beispiel durch die Subventionierung von Raummieten oder fester Arbeitsstellen für die Beratungsangebote. Dass dies im Sinne der Arbeitslosenkomitees war, spiegelt sich in einem Brief vom März 1993 des Züricher Arbeitslosenkomitees (ZAK) an die Direktion der Städtischen Liegenschaftsverwaltung: «Sie werden sicher verstehen, dass auf Grund unserer Lage die Mittel fehlen, um Büroraum auf dem Markt anzumieten. Wir bitten deshalb die Direktion der Städtischen Liegenschaftsverwaltung zu prüfen, ob sie uns ein Angebot für günstigen oder unentgeltlichen Büroraum machen kann.» Die Gemeinden und der Staat übernahmen jedoch die Finanzierung meistens nicht vollumfängich und so waren die Beratungsstellen auch von Spenden von Privatpersonen sowie von kirchlichen oder anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen abhängig.

Die staatliche Teilsubventionierung führte zu internen Debatten denn sie hatte einerseits einen positiven Effekt, weil die Beratungen eine Kontinuität entwickeln konnten und den Angeboten eine gewisse Stabilität verliehen. Andererseits bedeutete die Einbindung in sozialstaatliche Strukturen auch die Aufgabe der Autonomie der Arbeitslosenkomitees, wodurch sich auch deren Aktionsradius verkleinerte. Das Zürcher Arbeitslosenkomitee hielt 1994 in diesem Sinne fest: «Einsatzplätze haben ein Doppelgesicht: einerseits sind sie ein Instrument um das ZAK politisch zu disziplinieren, andererseits ermöglichen sie dem ZAK Kontinuität und Wege zur Finanzierung».

Neue Arbeitslosenpolitik

Nicht nur finanzielle sondern auch politische und gesetzliche Faktoren beeinflussten die Institutionalisierung der Arbeitslosenkomitees massgeblich, allen voran die Veränderungen der Arbeitslosenpolitik. Die Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) von 1995 führte zu einschneidenden Veränderungen in der Arbeitslosenpolitik, denn sie legte die Grundlage für die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV). Ab 1996 übernahmen über 150 solcher Arbeitsvermittlungszentren die Beratung und Kontrolle der Arbeitslosen. Zuvor waren dafür über dreitausend Gemeindearbeitsämter zuständig. Zur AVIG-Revision gehörte auch, dass die Stempelkontrollen durch Beratungs- und Kontrollgespräche sowie durch arbeitsmarktliche Massnahmen ersetzt wurden, in der Hoffnung die Bezugstage von Arbeitslosengeldern zu reduzieren. Die Menschen sollten schneller und effizienter wieder eine Arbeit finden, die öffentliche Arbeitsvermittlung sollte leistungsfähiger und Wiederanmeldungen und Langzeitarbeitslosigkeit vermieden werden. Dafür wurde unter anderem der Begriff «zumutbare Arbeit» ausgedehnt und der Druck auf die Arbeitslosen erhöht. Es wurde fortan erwartet, jegliche Form von Arbeit anzunehmen, ansonsten drohten Taggeldstreichungen. Diese verstärkte Kopplung staatlicher Unterstützung an eine Gegenleistung prägt nicht nur die Arbeitslosenversicherung, sondern auch die Invalidenversicherung und die Sozialhilfe seit den 1990er-Jahren. Die Sozialwissenschaftlerin Bettina Wyer bezeichnet dies als neues aktivierungspolitisches Paradigma, das durch Leitbegriffe wie «Eigenverantwortung», die Erosion sozialer Solidarität und der neoliberale Selbstoptimierungs- und Leistungszwang überdeckt.

(Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Die in den 1990er Jahre eintretende Investition in die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren und die Personalschulung sollte längerfristig ausgeglichen werden. Jürg Irman Leiter des RAV Uster brachte die Kosten-Nutzen-Rechnung 1996 in einem Interview im SRF auf den Punkt: «Wenn wir die Dauer, in der Geld bezogen wird, im Durchschnitt um sieben Tage reduzieren können, hat sich die Investition bereits gelohnt.» Um die Kosten der Arbeitslosenversicherung zu senken sollten ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Taggeldkürzungen eingeführt und die Löhne für eine zumutbare Arbeit und die Entschädigungen bei Teilzeit-Erwerbslosigkeit reduziert werden. Das Arbeitslosenkomitee Bern bezeichnete die angestrebten Veränderungen als Kürzungen auf dem Buckel der Arbeitslosen und als «verschärftes staatliches Lohndumping». Die Mobilisierungen der Arbeitslosenkomitees und der Gewerkschaften gegen diesen Sozialabbau konnten die Kürzungen jedoch bei der Abstimmung über die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung am 28. September 1997 verhindern. Dieser knappe Sieg ist angesichts der medialen Hetze gegen Arbeitslose bemerkenswert. Die «Neue Zürcher Zeitung» behauptete, dass ein Drittel der Arbeitslosen Alkoholiker:innen oder drogensüchtig seien und ein weiterer Drittel bestehe aus Drückeberger:innen, während eine Schlagzeile der Boulevardzeitung «Blick» suggerierte mit der Schlagzeile «Falsche Arbeitslose: Ihre 10 fiesen Tricks», dass viele Arbeitslose die Arbeitslosenkassen betrügen würden.

Dennoch läutete die AVIG-Revision die Phase des Niedergangs der Arbeitslosenkomitees ein, denn die Umstrukturierung wirkte sich auch auf die Mobilisierungsmöglichkeiten der Arbeitslosen aus: Die Schlangen vor den Arbeitsämtern fielen als Begegnungs- und Mobilisierungsorte weg, die Arbeitslosen wurden zunehmend voneinander isoliert. Der vermehrte Einsatz von Beschäftigungsmassnahmen führte zudem dazu, dass viele Arbeitslose keine Zeit mehr hatten, sich an den Komitees zu beteiligen. Im Zürcher Arbeitslosenkomitee ist beispielsweise in den Sitzungsprotokollen ständig von Mitgliederschwund die Rede, dadurch war es für das ZAK enorm schwierig die Infrastruktur aufrechtzuerhalten: «Die hohe Fluktuationsrate unter den Arbeitslosen erschwert die Kontinuität unserer Selbsthilfeorganisation erheblich. Um dem entgegenzuwirken, braucht es dringend einen stützenden Rahmen. Wünschenswert ist deshalb die Einrichtung von bezahlten, festen Sekretariatsstellen». Zudem stellte beispielsweise ds ZAK fest, dass sich auch eine gewisse Frustration, verbreitete: «Viele Arbeitslose mögen sich nicht engagieren (nach gewissem Anfangsenthusiasmus kehrt Resignation ein)». Auch das Berner Arbeitslosenkomitee (BAK) machte ähnliche Erfahrungen. In einem Lagebericht vom August 1993 ist zu lesen: «Stimmung in der Basler Arbeitslosen-Szene: nach einem Anfangselan von vielen Aktivisten, die sich erstmals politisch äussern, Artikel schreiben, Projekte starten, ist jetzt eine gewisse Ernüchterung eingetreten, weil sich der politische Druck nicht unmittelbar sichtbar auswirkt.» Dies, gepaart mit der Tatsache, dass in den 1990er Jahren die Wichtigkeit der selbstorganisierten Beratungsstellen vom Staat immer mehr anerkannt wurde, führte zur schrittweise Auflösung vieler Arbeitslosenkomitees. Was als Kritik an die staatliche Handhabung der Arbeitslosenpolitik begann, stellte sich als wichtige ergänzende Massnahme heraus, auf die viele Leute angewiesen waren

Von der Bewegung in die Beratung

Trotz dieser Widersprüche zeigt sich, dass autonome und selbstorganisierte Strukturen, die an Alltagsproblemen der Menschen ansetzen und von den Betroffenen selbst am Leben gehalten werden, spannende Kampfmittel sein können. Aber je mehr sie sich institutionalisieren und ihre Strukturen festigen, desto mehr verlieren sie an Radikalität und Mobilisierungspotential. Die direkten Aktionen treten zugunsten von längerfristigen Strukturen – zum Beispiel Beratungsangeboten – in den Hintergrund, wobei auch diese Angebote nach wenigen Jahren wieder verschwinden.

Der Schritt vom politischen Aktivismus der Betroffenen hin zu staatlich teilsubventionierten Beratungsstelle ist meistens kein grosser, spätestens dann, wenn selbst die staatlichen Institutionen merken, dass eine Lücke gefüllt wird, die sie selber nicht bedienen. Dennoch wäre es falsch, autonome Strukturen der Selbsthilfe lediglich als Dienstleistungsangebote abzutun, die dem Staat Aufgaben abnehmen. Im Falle der Arbeitslosenkomitees ging der Integration in die Sozialpolitik ein Prozess der kollektiven Selbstorganisierung, der Solidarität und der Kritik des repressiven Sozialstaats voraus. Sie versuchten die soziale Isolation der Arbeitslosen zu durchbrechen und das Problem gesamtgesellschaftlich anzugehen. So schrieb das Arbeitslosenkomitee Bezirk Dielsdorf 1993 in einem Flyer: «In der heutigen Wirtschaftslage ist die Arbeitslosigkeit nicht nur ein Problem der Arbeitslosen; sie ist menschengemacht und ein gesellschaftliches Problem. Du stehst auf der Strasse und haderst mit Dir. Es wird Zeit, dass wir, die Arbeitslosen, uns in unsere Angelegenheiten einmischen».

Darüber hinaus versuchten viele Arbeitslosenkomitees die Arbeitslosigkeit mit anderen sozialen Problemen zu verbinden. Das Winterthurer Arbeitslosenkomitee (WAK) stellte beispielsweise fest: «die steigende Arbeitslosenzahl ist für die Arbeitgeberseite ein ideales Druckmittel für Überstunden und Lohndumping». Im gleichen Text wird das Mensch-Natur-Verhältnis im Kapitalismus thematisiert: «die Ressourcen sind begrenzt, die Natur bis zur Schmerzgrenze ausgebeutet. Wir sind Teil der Erde und nicht umgekehrt.» Zugleich war auch der Kampf gegen Rassismus und Sexismus oft Bestandteil der politischen Themen, die in den Arbeitslosenkomitees präsent waren. In einem Mind-Map, in dem Mitglieder des ZAK Ideen zusammentrugen, spiegelte sich beispielsweise der Wille, über ökonomische Fragen hinauszugehen: «Gegen die Zurückdrängung der Frauen an den Herd, gegen jeden Rassismus, gegen zerstörende Produktionsweisen, gegen Krieg fördernde Produkte und Handel mit ihnen.»

(Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Es lässt sich also festhalten, dass viele Arbeitslosenkomitees versuchten, unmittelbar und direkt in die eigenen Lebensrealitäten einzugreifen und von dort aus die Frage nach breiteren gesellschaftlichen Problemen zu lancieren. Ihr Scheitern und ihre Integration in die Sozialpolitik waren auch durch die mangelnde Verbreitung sozialer Kämpfe bestimmt. Der Entstehungskontext der Arbeitslosenkomitees war meistens durch ungünstige Kräfteverhältnisse gekennzeichnet, was von Anfang an ihren politischen Horizont bestimmte: Das Recht auf Arbeit und nicht deren Abschaffung stand im Zentrum – und dies in einer Schweiz, deren politische Landschaft zwar nicht immer, aber doch meistens durch Arbeitsfrieden und Sozialpartnerschaft und nicht durch betriebliche und soziale Kämpfe gekennzeichnet war. Am 1. Mai 1993 fasste eine Rednerin die widersprüchliche Lage der arbeitslosen Proletarier:innen in nichtrevolutionären Zeiten treffend zusammen: «Da stehe ich nun, im Regen (in der Sonne) und habe Feiertag, obwohl ich immer freie Zeit habe, ohne Arbeit, als Arbeitslose. Zeit, in der ich endlich machen kann, was Spass macht, was ich schon lange wollte. Aber die Freude dauerte nur kurz an. Bald häuften sich die Sorgen […] plötzlich lebe ich nur noch, immer einsamer, von Tag zu Tag.»

Angepasste Arbeitslose?

Dass es heutzutage keine Arbeitslosenkomitees mehr gibt, bedeutet nicht, dass alle Arbeitslosen die Schikanen und Repression passiv hinnehmen. Vielmehr leben widerständigen Verhaltensweisen auf verdeckte Art und Weise weiter. Sie äussern sich nicht öffentlich und meistens auch nicht kollektiv, sondern auf individueller Ebene: Gefälschte Arbeitsbemühungen, Absentismus und unzuverlässiges Arbeiten während Arbeitsintegrationsmassnahmen sind beispielsweise einige der Mittel, derer sich Arbeitslose bedienen, um der sozialstaatlichen Repression, Disziplinierung und Entwürdigung zu trotzen. Viele arbeitslose Arbeiter:innen spüren am eigenen Leib, dass der Sozialstaat nicht die Arbeitslosigkeit sondern die Arbeitslosen bekämpft. Eine klassenkämpferische Antwort darauf ist die Bekämpfung von soziale Leistungskürzungen, Sozialabbau und verstärkten Kontrollmassnahmen unter gleichzeitiger Betonung der strukturellen Ursachen der Arbeitslosigkeit. Zugleich sollte vermieden werden dem Ideal der Vollbeschäftigung das Wort zu reden und das Recht ausgebeutet zu werden, also Arbeit zu haben, mit Freiheit und Emanzipation zu verwechseln. Denn auch heute gilt gesamtgesellschaftlich auf ideologischer Ebene weiterhin das Credo, das 1995 vom Unesco-Berater Ignacy Sachs während dem Weltgipfel für soziale Entwicklung in Kopenhagen beschworen wurde: «Der erste Schritt zur sozialen Eingliederung ist, ausgebeutet zu werden.»

Quellen aus dem Sozialarchiv: SozArch Ar 509.10 (1.17). Bestand abrufbar unter:

https://www.findmittel.ch/archive/archNeu/Ar509.html?tab=aktenserien [30.03.2024]

Quelle: https://www.ajourmag.ch/arbeitslosenkomitees/

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FREE MUMIA – Kundgebung

FREE MUMIA – FREE THEM ALL!
Am Mittwoch, 24. April 2024 wird der afroamerikanische Journalist und politische Gefangene Mumia Abu-Jamal 70 Jahre alt. Der Black Panther verbrachte 42(!) Jahre davon in Haft. Aus der Haft heraus kämpft er gegen Rassismus, Ausbeutung und Krieg und veröffentlichte unter anderem elf Bücher. Diese Bücher, Texte und Radiobeiträge sind ein fester Bestandteil der abolitionistischen Bewegung. Weder 29 Jahre Isolationshaft noch Hinrichtungsbefehle haben ihn je davon abgehalten am Ort der aktuellen Sklaverei unter anderem Namen die “Voice of the Voiceless” zu sein.

“Manche sagen, es sei unvernünftig, Widerstand gegen dieses gewalttätige System zu leisten. Ich denke, es ist unvernünftig, das nicht zu tun.” (Mumia Abu-Jamal).

Lasst uns Mumias bisherige Lebensleistung würdigen!
Zusammen gegen Rassismus, Ausbeutung und Krieg!

Mittwoch – 24. April 2024
18.00 Uhr
Kundgebung vor der US Botschaft
Sulgeneckstrasse 19
Bern

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Richard-Wagner-Weg umbenannt!

Gestern Abend haben Mitglieder der ausserparlamentarischen linken Gruppierung RESolut den Richard-Wagner-Weg im Luzerner Tribschenquartier umbenannt. Neu soll er nach der 2004 in Genf verstorbenen Fluchthelferin Aimée-Stitelmann benannt werden.

Der deutsche Komponist, Schriftsteller, Theaterregisseur und Dirigent Richard Wagner lebte von 1866 bis 1872 im heutigen Tribschenquartier in Luzern[1]. Bis heute befindet sich dort das Richard-Wagner-Museum, der Richard-Wagner-Weg führt zum Museum und in der nahen Ufschötti befindet sich das Wagner-Denkmal[2]. Zu viel Verehrung und Verklärung für die Luzerner Gruppe RESolut. Sie kritisiert insbesondere Wagners Antisemitismus. Wagner sei Wegbereiter für den “modernen” Antisemitismus[3] gewesen teilt die Gruppe mit. So bediente sich Richard Wagner etwa einem ähnlichen Vokabular wie der spätere, glühende Wagner-Fan Adolf Hitler.

In seiner Schrift, “Das Judentum und die Musik” schrieb Wagner: “Der Jude an sich sei unfähig sich künstlerisch auszudrücken”. In einem Brief an König Ludwig II. vom 22.11.1881 “dass ich die jüdische Race für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr halte: dass namentlich wir Deutschen an ihnen zu Grunde gehen werden, ist gewiss, und vielleicht bin ich der letzte Deutsche, der sich gegen den bereits alles beherrschenden Judaismus als künstlerischer Mensch aufrecht zu erhalten wusste”[4]. Der Antisemitismus des späten Richard Wagners ab 1850 ist kein Geheimnis. Seine Ehrung in Luzern für die Gruppe RESolut unverständlich.

RESolut fordert deshalb, dass der Richard-Wagner-Weg in Aimée-Stitelmann-Weg umbenannt wird. Die 1925 in Paris geborene Aimée Stitelmann-Stauffer zog vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges nach Genf und wurde 1945 von einem Militärgericht zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt, weil sie jüdischen Kindern zur Flucht in die Schweiz verholfen hat.[5] Im März 2004 war die Lehrerin die erste Fluchthelferin, die aufgrund eines neuen Gesetzes formell rehabilitiert wurde. Eine Wiedergutmachung erhielt Aimée Stitelmann-Stauffer, die am 20. Dezember 2004 in Genf verstarb, aber nie.[6]

Aimée Stitelmann nahm nie Geld für ihre Fluchthilfe. Sie handelte aus politischer und moralischer Überzeugung mit gerade einmal 17 Jahren half sie das erste Mal jüdischen Kindern bei der Flucht mehr als einem duzend Kindern rettet sie wohl insgesamt das Leben. Nach der Flüchtlingshilfe für Juden und Jüdinnen hatte sie sich in ihrem Leben im Kampf gegen den Vietnamkrieg engagiert, gegen die Franco-Diktatur in Spanien und in jüngerer Zeit für Asylsuchende und papierlose Immigrant*innen. Von 1953 bis 1957 engagierte sie sich in der kommunistischen Partei in Israel und kehrte anschliessend in die Schweiz zurück, wo sie Mitglied der Partei der Arbeit war.[7]

Für RESolut steht Aimée Stitelmann-Stauffer stellvertretend für mehrere Fluchthelfer*innen. Menschen auf dem Weg zum Richard-Wagner-Museum sollen daran erinnert werden, wo Antisemitismus hinführen kann. Das Frau Stitelmann-Stauffer eben eine Frau war sei ein Bonus, denn diese seien in den Strassennamen chronisch untervertreten.

[1] https://richard-wagner-museum.ch/geschichte/tribschener-zeit/

[2] https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/hingeschaut-was-die-skulptur-auf-der-luzerner-ufschoetti-mit-richard-wagner-zu-tun-hat-ld.2489827?reduced=true

[3] https://www.sueddeutsche.de/politik/judenhasser-und-komponist-der-paranoia-fall-richard-wagner-1.1678112

[4] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/160065/richard-wagners-antisemitismus/

[5] https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/044028/2010-10-22/

[6] https://www.woz.ch/0535/fluchthilfe/nur-die-erwischten-sind-bekannt

[7] https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/044028/2010-10-22/

Quelle: https://barrikade.info/article/6357

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Wenn das Politische privat wird

1998 verabschiedeten sich die verbliebenen RAF-Mitglieder mit einer Erklärung in das Privatleben. Der Preis, den sie selbst – und andere – für die politischen Irrtümer der RAF zahlten, war sehr hoch. Das kürzlich festgenommene vermutliche RAF-Mitglied Daniela Klette verbrachte mehrere Jahrzehnte in der Illegalität.

Quelle: https://jungle.world/artikel/2024/10/dritte-generation-der-raf-wenn-das-politische-privat-wird

Am Abend des 26. Februar wurde die der sogenannten dritten Generation der RAF zugeordnete Daniela Klette von Zielfahndern des Landeskriminalamts Niedersachsen in Berlin festgenommen. Am 28. Februar hatte im Deutschen Theater Berlin Elfriede Jelineks »Ulrike Maria Stuart« Premiere. Regisseurin Pınar Karabulut versprach in einem Gespräch mit ihrem Dramaturgen: »Potenziert durch den Standort des Deutschen Theaters, quasi in unmittelbarer Nähe des Regierungszentrums, untersuchen wir die politischen Fragen, die sich bereits mit der RAF gestellt haben und die wir uns wieder stellen müssen: Wann ist zum Beispiel Widerstand politisch und wann ist er Terrorismus?«

Dass die Regisseurin dafür weite Teile von Jelineks Text gestrichen hat, dient der Klärung der aufgeworfenen Fragen nach Auffassung etlicher Kritiker:in­nen nicht. Auch die Fragestellung selbst irritiert eher, als dass sie einen ins Theater treibt – vor allem der Dualismus von nicht näher beschriebenem »­Widerstand« einerseits, der »politisch« ist, und »Terrorismus« andererseits ­erscheint recht fernab der heutigen Verhältnisse, wie sie sich in so unterschiedlichen Konstellationen zeigen: dem Überfall der Hamas auf Israel, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, der zunehmenden Attraktivität ­autoritärer, antidemokratischer Bewegungen und Herrscher und dem weitgehend tatenlosen Hinnehmen des Klimawandels.

Möglicherweise befindet sich das Deutsche Theater nicht nur räumlich, sondern auch mental inmitten der deutschen Verhältnisse, in denen die RAF ganz unabhängig davon, was tatsächlich von ihr nach der Auflösung geblieben ist, eine eher mythisch überhöhte Bedeutung behalten hat.

»Und laßt euch nicht schnappen und lernt von denen, wie man sich nicht schnappen läßt – die verstehen mehr davon als ihr.« RAF-Erklärung, 1970

Vor 54 Jahren hatte die Gruppe mit der Befreiung des inhaftierten Andreas Baader ihren ersten spektakulären Auftritt, bei dem der Bibliotheksangestellte Georg Linke und ein Justizbeamter angeschossen wurden. Wenig später erschien der von Gudrun Ensslin namentlich unterzeichnete Aufruf »Die Rote Armee aufbauen!«, der die Mobilisierung der »potentiell revolutionären Teile des Volkes« bewirken sollte, sich aber mangels eines geeigneten Verteilers doch nur an die Leser:innenschaft der linksradikalen Agit 883, die »falschen Leute«, die »kleinbürgerlichen Intellektuellen«, wenden konnte: »Sitzt nicht auf dem hausdurchsuchten Sofa herum und zählt eure Lieben, wie kleinkarierte Krämerseelen. Baut den richtigen Verteilerapparat auf, laßt die Hosenscheißer liegen, die Rotkohlfresser, die Sozialarbeiter, die sich doch nur anbiedern, dies Lumpenpack. Kriegt raus, wo die Heime sind und die kinderreichen Familien und das Subproletariat und die proletarischen Frauen, die nur darauf warten, den Richtigen in die Fresse zu schlagen. Die werden die Führung übernehmen. Und laßt euch nicht schnappen und lernt von denen, wie man sich nicht schnappen läßt – die verstehen mehr davon als ihr.«

»Rote Armee aufbauen«, Zerwürfnisse und Spaltungen in der Linken

Das Versprechen war, »die Rote Armee« aufzubauen, um »die Konflikte auf die Spitze treiben zu können«. Das eine gelang nicht, auf das andere mochte die RAF gleichwohl nicht verzichten– in den Jahren seitdem haben dafür viele, auf sehr unterschiedliche Weise, einen hohen Preis gezahlt. Die RAF selbst, die bald überwiegend aus Gefangenen bestand, von denen etliche die Haft nicht überlebt haben, während andere bei Anschlägen ums Leben kamen oder bei der Gefangennahme ­getötet wurden; ­zudem Polizei- und Justizbeamte, Diplomaten, Wirtschaftsführer, Banker, die bei Einsätzen, Attentaten und Geiselnahmen erschossen wurden.

Aber auch Justiz, Politik und Rechtsstaat haben den Kampf der RAF nicht unbeschadet überstanden. Hochschullehrer wurden suspendiert, Menschen, die als Sympathisanten galten (und es bisweilen auch waren), wurden verfolgt; die radikale und weniger radikale Linke erlebte Zerwürfnisse und Spaltungen.

Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989, der den Weg zum Beitritt der DDR zur BRD frei machte, wurde am 30. November der Vorstandschef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, ermordet, sein Fahrer ­Jakob Nix wurde bei dem Bombenanschlag schwer verletzt.

In der Erklärung zu diesem Anschlag schrieb die RAF inhaltsleer, der »revolutionäre Prozeß« brauche »neue Dynamik und produktive Wechselbeziehungen«. Nur »zusammen« könnten »die Kämpfe« die nötige Kraft entwickeln, um »destruktive Entwicklungen des Imperialismus zu stoppen und überhaupt seine ganze zerstörerische Entwicklungsrichtung umzudrehen«.

1991 erschossen Mitglieder der RAF den damaligen Leiter der Treuhandanstalt, die Staatseigentum der DDR in Privatvermögen überführte, Detlev Karsten Rohwedder. Es war der letzte tödliche Anschlag der Stadtguerilla, als die sich die RAF-Mitglieder verstanden.

»Die Eskalation zurücknehmen«

Die Erklärung der Gruppe vom 4. April 1991 kritisierte die »Annexion« der DDR, die sie »faktisch zu einer Kolonie der Bundesrepublik« gemacht hätte: »Wir begreifen unsere Aktion gegen einen der Architekten Groß-Deutschlands auch als Aktion, die diese reaktionäre Entwicklung an einer Wurzel trifft.«

Davon war dann ein gutes Jahr später nicht mehr die Rede. Am 10. April 1992 erklärte die RAF, sie wolle »die Eskalation zurücknehmen«: Es sei »klar geworden«, dass es »so« nicht weitergehen könne, denn: »wir hatten unsere politik ganz stark auf angriffe gegen die strategien der imperialisten reduziert, und gefehlt hat die suche nach unmittelbaren positiven zielen und danach, wie eine gesellschaftliche alternative hier und heute schon anfangen kann zu existieren.«

Es dauerte noch sechs weitere Jahre, bis aus der Suche nach »unmittelbaren positiven Zielen« die Entscheidung für die Auflösung der RAF wurde, die einen knappen Abriss der Geschichte der RAF mit einer eigenen, abschließenden Positionsbestimmung verband: »Wir, die wir uns zum großen Teil erst spät in der RAF organisierten, wollten unsere Grenzen durchbrechen und frei sein von allem, was uns im System hält.« Das Resümee der RAF in diesem letzten Schreiben fiel denkbar schlicht, dafür aber erstaunlich selbstbewusst aus: »Die RAF konnte keinen Weg zur Befreiung aufzeigen. Aber sie hat mehr als zwei Jahrzehnte dazu beigetragen, daß es den Gedanken an Befreiung heute gibt.« Was diese »Befreiung« allerdings sein soll und wie sie auch nur ansatzweise aussehen könnte, bleibt offen.

Diskreditiertes Konzept der »Befreiung«

Das freundliche, abschließende ­Gedenken der RAF an die »GenossInnen der palästinensischen Befreiungsfront PFLP«, deren »internationale Solidarität beim Versuch, die politischen Gefangenen zu befreien«, 1977 in der Entführung eines vollbesetzten Passagierflugzeugs und der Ermordung des Pilo­ten bestand, diskreditiert dieses unbestimmte Konzept der »Befreiung« jedenfalls.

Seit der Auflösungserklärung von 1998 haben sich die, die sie verfasst und sich darin als »ehemalige Militante der RAF« bezeichnet hatten, nicht mehr zu Wort gemeldet. Sie verstehen sich mittlerweile offenbar als Privatpersonen, die nach ihrem Rückzug aus dem aktiv militanten Leben keine ­weiteren politischen Verpflichtungen mehr haben. Ob die jetzt noch gesuchten Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg oder die verhaftete Daniela Klette dazu gehören, weiß man nicht.

Auch der Staat hat bisher wenig ­getan, um seine Rolle in dem Geschehen offenzulegen. Damit »alle Hintergründe« aufgedeckt werden können, bedürfte es auch insoweit einer Freigabe von Dokumenten.

Was mit den Indizien, die Medienberichte derzeit nicht ganz widerspruchsfrei aufzählen, tatsächlich belegt werden kann, wird sich erst in ­einem gerichtlichen Verfahren klären. Dass es in einem solchen Verfahren um die »Aufklärung aller Hintergründe« gehen wird, wie der grüne Innenpolitiker Konstantin von Notz, Vorsitzender des Parlamentarischen Kon­trollgremiums des Bundestags, fordert, erscheint allerdings eher unwahrscheinlich.

Zum einen setzte das voraus, was derzeit allenfalls vermutet werden kann, dass nämlich Daniela Klette und eventuelle weitere Angeklagte zu einer ­solchen umfassenden Aufklärung überhaupt in der Lage sind. Es verlangte aber zum anderen und mehr noch, dass sie nämlich, wenn sie es könnten, auch daran interessiert wären. Dafür spricht derzeit zumindest das Schweigen über Taten und Tatumstände sowie das nach wie vor offensichtliche Desinteresse zumindest der »ehemaligen Militanten der RAF« an den Opfern ­ihrer Anschläge gerade nicht.

Auch der Staat hat bisher wenig ­getan, um seine Rolle in dem Geschehen offenzulegen. Damit »alle Hintergründe« aufgedeckt werden können, bedürfte es auch insoweit einer Freigabe von Dokumenten: von den Protokollen des Krisenstabs über die Initi­ativen des Verfassungsschutzes, um Aussteiger zu (möglicherweise falschen) Aussagen motivieren, bis zu den vollständigen ­Ermittlungsakten – zumindest für Wissenschaftler:innen, die daran ein substantielles Forschungsinteresse geltend machen können.

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Feministischer Kampftag Luzern

Auf zum feministischen Kampftag 2024 in Luzern!

Um 17:00h treffen wir uns in der Nähe des BHF Luzern, um mit einem lauten Spaziergang Richtung Sentitreff zu starten.

Danach gibt es um 18:30h ein vegi/veganes Znacht vom Kurdischen Kulturverein.

Die Workshops starten um 20:00h und geben Inputs zum Gleichstellungsbericht (Vanessa Kilchmann, Maria Pilotto), Anti-Rassismus (Verein Diversum) und psychischer und physischer Gewalt (Sisters DV).

Um 21:30h wird es diverse Reden, ein Konzert von Zeny und eine Open Stage geben.

Ab 00:00h dann die “Meow Meow” Afterparty im Klub Kegelbahn.

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Krieg gegen Gaza: Schüsse auf Hungernde

Über 100 Getötete in Gaza bei Hilfslieferung: Israelische Armee will Berichte »prüfen«. Kleinkinder sterben an Nahrungsmangel

Mindestens 104 Tote und 760 Verletzte meldeten die Gesundheitsbehörden im Gazastreifen bis jW-Redaktionsschluss: Am frühen Donnerstag morgen haben nach Augenzeugenberichten israelische Soldaten das Feuer auf Zivilisten in der Nähe von Gaza-Stadt eröffnet, wo die Opfer auf Hilfslieferungen warteten. Noch in der Dunkelheit waren demnach Tausende hungrige Menschen auf die ankommenden Lkw zugestürmt. Dabei seien sie einigen israelischen Panzern »zu nahe gekommen«. Die Soldaten hätten daraufhin in die Menge gefeuert. Die Hamas warnte, aufgrund des heftigen Angriffs auf Zivilisten, könnten die Gespräche über eine Waffenruhe scheitern.

Während das israelische Militär zunächst erklärte, keine Kenntnis von den Schüssen zu haben, und dann behauptete, Dutzende Menschen seien infolge des Gedränges durch Stöße und Tritte verletzt worden, waren in sozialen Netzwerken und arabischen Nachrichtensendern blutüberströmte Getötete zu sehen. Auf einem Lkw hatten Anwohner Leichen gestapelt, zudem wurden Opfer mangels Krankenwagen und anderer Fahrzeuge auf Eselskarren abtransportiert. Am Vormittag dann erklärte die israelische Armee, die Berichte zu »prüfen«.

Internationale Hilfsorganisationen warnen immer eindringlicher vor einer flächendeckenden Hungerkrise und dem Hungertod Tausender im Gazastreifen, den Israel seit Oktober von der Stromzufuhr und von Treibstofflieferungen sowie einem Großteil der benötigten Hilfsgüter abschneidet. Während vor dem 7. Oktober noch rund 500 Lkw pro Tag in die Küstenenklave gelangten, dürfen seither nur noch 90 die Checkpoints passieren. Die israelische Regierung streitet dies ab und wirft den Helfern, insbesondere denen der Vereinten Nationen, Versagen beim Verteilen vor. Wie die UNO berichtet, hat sich die Menge der Hilfslieferungen im Februar im Vergleich zum Vormonat sogar noch einmal halbiert.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete derweil über den Tod zweier Säuglinge im nördlichen Gazastreifen. Sie seien an Dehydrierung und Unterernährung gestorben. Zahlreiche weitere Kinder seien aufgrund des Mangels an Nahrungsmitteln ebenfalls vom Tod bedroht. Es waren nicht die ersten derartigen Berichte: Allein aus dem Kamal-Adwan-Krankenhaus im Norden des Gazastreifens sind bereits sieben verhungerte Kinder gemeldet worden. Am Mittwoch starb der zweijährige Khaled Hidschasi an einer Vergiftung infolge des Verzehrs von Tierfutter. Anderes stand seiner Familie nicht zur Verfügung.

Die Zahl der im Gazakrieg getöteten Palästinenser hat die Marke von 30.000 inzwischen überschritten. Wie der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf bestätigte, sind inzwischen über 100.000 Getötete und Verletzte bei dem – wie er sagte – »Gemetzel« zu beklagen. Zehntausende seien vermutlich unter den Trümmern ihrer Häuser begraben. 17.000 Kinder seien inzwischen zu Waisen oder von ihren Familien getrennt worden. Unzählige weitere würden ein Leben lang die Narben des physischen und emotionalen Traumas tragen.

Die Zahlen und Bilder aus dem Gazastreifen hinterlassen auch in den traditionell proisraelischen USA ihre Spuren: Dort bevorzugen neun Monate vor der Präsidentschaftswahl 56 Prozent der Anhänger der Demokraten einen Kandidaten, der sich gegen Militärhilfen für Israel ausspricht, wie aus einer am Donnerstag veröffentlichten Reuters/Ipsos-Umfrage hervorgeht.

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/470403.krieg-gegen-gaza-sch%C3%BCsse-auf-hungernde.html

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Fotoausstellung in der Kornhausbibliothek Bern 26.2-16.3

🔊Im Herbst 2023 hat der Berner Stadtrat in seinem Budget 70.000 Fr. an die zivile Seenotrettungsorganisation Sea Eye gesprochen. Der grösste Betrag der jemals von einer Stadt an eine Seenotrettungs-NGO gespendet wurde.

🖼️ Durch eine Fotoausstellung machen wir weiter auf die tödlichste Grenze Europas und die Situation auf dem Mittelmeer aufmerksam. Ziel dabei ist es auch, auf das anhaltende und staatlich gewollte Sterbenlassen von Menschen auf der Flucht im Mittelmeer aufmerksam zu machen.

‼️ Dass es die Arbeit von Sea Eye, Sea-Watch und co. überhaupt gibt liegt einzig daran, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten bewusst auf Abschreckung setzen. Auch die Schweiz macht mit. Doch was ist das für eine Politik, die Menschenleben riskiert, einzig weil der Wunsch besteht Ressourcen gerechter zu verteilen?

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Zur Umstrukturierung der Zapatistas

Infoveranstaltung zum Zapatismus und der EZLN

Freitag, 16.02.2024
Infoladen Kasama, Militärstrasse 87A Zürich
Vokü 19 Uhr, Input 20 Uhr

Nach langem Schweigen trotz zunehmender gewalttätiger Konflikte und Militarisierung in Chiapas, Südmexiko, meldete sich die EZLN im vergangenem Herbst zu Wort und verkündete eine Neuorientierung und die Umstrukturierung der autonomen Gesellschaftsstrukturen der Zapatistas.

An der Veranstaltung zeichnen wir die Geschichte und die Organisationsprinzipien der zapatistischen Bewegung nach und gehen auf die aktuelle Lage in Chiapas ein. Anhand der strukturellen Veränderungen der Zapatistas diskutieren wir über die Bedeutung des Widerstands in Südmexiko für die revolutionäre Linke im Herzen der Bestie.

16. Februar 2024
Infoladen Kasama, Militärstrasse 87a, Zürich
19 Uhr Essen, 20 Uhr Input.

Direkte Solidarität mit Chiapas & Organisierte Autonomie Zürich
www.chiapas.ch / www.oa-zh.ch

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Narco-Kapitalismus, Militarisierung und Extraktivismus. Über die Lage in Ecuador und indigene Selbstorganisation.

Quelle: https://www.ajourmag.ch/ecuador-narco-kapitalismus/

In Ecuador eskaliert der Drogenkrieg. Militär und Kartelle liefern sich blutige Auseinandersetzungen. Dagegen setzen indigene Gemeinschaften auf Selbstorganisation und kollektiven Widerstand.

In der ersten Januarwoche 2024 entkam José Adolfo Macías Villamar, alias «Fito», der Kopf des mächtigsten ecuadorianischen Kartells «Los Choneros», dem Gefängnis. Zudem kam es in mehreren von Narcos kontrollierten Haftanstalten zu Ausschreitungen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Präsident Daniel Noboa rief den Ausnahmezustand aus. Wie ist es dazu gekommen?

In den letzten Jahren ist Ecuador zu einem wichtigen Knotenpunkt für den Kokainhandel geworden. Der kleine Andenstaat, der zwischen den zwei grössten Kokainproduzenten Kolumbien und Peru liegt, stand dadurch jüngst vermehrt in den internationalen Schlagzeilen. Im August 2023 wurde der Präsidentschaftskandidat und Gegner der Drogenkartelle, Fernando Villavicencio, in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito am helllichten Tag und vor laufenden Kameras erschossen. Seit August 2022 wurden acht Politiker ermordet. Ecuador wies im 2023 die höchste jährliche Mordrate Südamerikas auf: 46,5 auf 100.000 Einwohner:innen, in einigen Vierteln der Hafenstadt Guayaquil betrug sie sogar 110 Tote auf 100.000 Einwohner:innen. Insgesamt wurden im Jahr 2023 in Ecuador fast achttausend Menschen ermordet.

Bewaffnete Narcos stürmten am 9. Januar 2024 vor laufenden Kameras ein Fernsehstudio in Guayaquil und nahmen Geiseln. Bild: perfil.com

Zum Jahresbeginn nun mit dem Ausbruch von Adolfo Macías eine weitere Eskalation. Seither gilt ein sechzigtägiger Ausnahmezustand, der mit einer nächtlichen Ausgangssperre einhergeht. Präsident Daniel Noboa, Sohn des reichsten Mannes Ecuadors und erst seit kurzem im Amt, mobilisierte über dreitausend Sicherheitskräfte. Die Massnahmen erschweren das Drogengeschäft erheblich, weshalb die «Choneros» auf Eskalation und Destabilisierung setzen. Seit der Ankündigung des Ausnahmezustands stürmten bewaffnete Kartellmitglieder eine Fernsehstation, ein Club wurde in Brand gesetzt, es kam zu Plünderungen, zu Schiessereien vor Schulen und zu Geiselnahmen von 180 Justizvollzugsbeamt:innen, die aber mittlerweile alle wieder frei sind. In vielen Gefängnissen kam es zu Revolten, weil die Kartelle in diesen grossen Einfluss haben. Die Narcos treffen oftmals Abkommen mit den Wärter:innen: Im Gegenzug zu gewissen Freiheiten und gelockerten Kontrollen für die Gefangenen sorgen die Kartelle für Ruhe innerhalb der Gefängnismauern.

Die Verlagerung des Kokain-Business nach Ecuador

Bis jetzt haben die «Choneros» ihr Ziel erreicht: Die Unsicherheit im Land ist riesig. Doch was führte dazu, dass sich die Drogenkartelle vermehrt nach Ecuador verlagerten und weshalb ist Ecuador so wichtig für den Kokainschmuggel? Das ecuadorianische Justizwesen ist schwach, die Korruption greift in allen staatlichen Strukturen weit um sich. Seit Jahren wurden die Ausgaben für Polizei und Militär gekürzt. Der damalige linke Präsident, Rafael Correa, hat beispielsweise im Jahr 2009 eine Militärbasis in der Küstenregion Manta geschlossen, wo zuvor viele Flugzeuge der Drogenbekämpfung starteten. Hinzu kommt, dass Correa die Zusammenarbeit mit der die US-Antidrogenbehörde DEA beendete, was die staatliche Kontrolle in den kolumbianischen Grenzgebieten schwächte. Auch seine Nachfolger Lenin Moreno und Guillermo Lasso dürften die Gefahr unterschätzt haben, die 2016 ihren Anfang nahm. In diesem Jahr schloss die FARC-Guerilla (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) ein Friedensabkommen mit der kolumbianischen Regierung. Das kolumbianische Drogenmonopol der FARC brach dadurch zusammen und es entstanden verschiedene neue Drogenbanden, die nach neuen Routen und Allianzen suchten – insbesondere mit mexikanischen Drogenkartellen, aber auch mit mafiösen Strukturen aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Montenegro und Serbien, die ebenfalls in Lateinamerika aktiv sind. Einige dieser neuen Narco-Strukturen und auch ehemalige FARC-Mitglieder, die mit dem Friedensabkommen nicht einverstanden waren, verlagerten ihre Tätigkeiten nach Ecuador, weil dort die staatliche Überwachung und Kontrolle geringer war. Ecuador bot den Kartellen also eine gute Ausgangslage. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass ein stärkerer, repressiverer Staat ein Garant für die Eindämmung der Macht von Drogenkartellen wäre. Eine schwache Justiz verhilft den Drogenkartellen zwar zu gewissen Vorteilen, aber ohne institutionellen Rückhalt im Staat hätten die Narcos nie die Macht und Grösse erreicht, die sie vielerorts haben: Richter:innen, Politiker:innen, Polizist:innen und Militärs sind das Rückgrat der Profitmaschinerie der Kartelle.

Am 9. August 2023 wurde der Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio von Narcos ermordet. Bild: elpais.com

Strategische Häfen und Narco-Allianzen

Da der grösste Teil des in der Region produzierten Kokains dort verschifft wird, sind die Häfen der ecuadorianischen Pazifikküste in den Provinzen Guayas und Manabí für die Drogenkartelle von zentraler Bedeutung. Schätzungen zufolge gelangen etwa 75 Prozent der über 1200 Tonnen Kokain, die jährlich in Kolumbien produziert werden, über ecuadorianische und kolumbianische Häfen nach Europa, Asien und Nordamerika. Die mexikanischen Kartelle «Cartel de Sinaloa» und «Cartel Jalisco Nueva Generación» haben hierbei einen grossen Einfluss und kooperieren mit lokalen Drogenbanden, die sich gegenseitig bekämpfen und quasi Subunternehmen der mexikanischen Kartelle sind. Der «Cartel de Sinaloa (CS)» hat seit über zwanzig Jahren Allianzen mit ecuadorianischen Narcos geschmiedet, insbesondere mit den «Choneros». Letztere konnten über Jahre ungestört für den CS arbeiten und hatten praktisch keine Konkurrenz. Im Nachgang des FARC-Friedensabkommens wurden die neuen Drogenbanden auch in ecuadorianischem Gebiet aktiv und es verbreiteten sich auch Coca-Plantagen – insbesondere in den Provinzen Esmeraldas, Carchi und Sucumbíos. Im Zuge dessen wurde auch das mexikanische Kartell «Cartel Jalisco Nueva Generación (CJNG)» aktiv und verbündete sich mit den Gruppen «Los Lobos», «Los Lagartos» und «Los Tiguerones», die stellvertretend für den CJNG in Ecuador ihr Drogengeschäft leiten. Die Folge der vermehrten Präsenz des CJNG war ein Krieg zwischen Drogenbanden. Seit 2016 stieg die Anzahl der Morde um 470 Prozent.

Militarisierung der Gesellschaft

Die Regierung Noboa versucht die angespannte Lage in Ecuador durch Militarisierung in den Griff zu bekommen. Doch ein Blick nach Mexiko zeigt, dass die Drogenkartelle auf diese Weise kaum zu stoppen sein werden, vielmehr droht eine Gewaltspirale, weil auch die Kartelle aufrüsten und um Einflussgebiete ringen.

Die weitreichende Verankerung der Drogenkartelle erwächst aus der der sozialen Ungleichheit und der Armut eines immensen Teils der Bevölkerung in der Region. In Lateinamerika arbeiten viele Menschen im informellen Sektor und es gibt kaum Auffangstrukturen für so viel soziales Elend – Drogenkartelle fungieren hier als willkommene Arbeitgeber. Sie sind hierarchische, bewaffnete und transnationale Unternehmen mit klarer Arbeitsteilung und Befehlsketten. Auf einer der untersten Stufen dieser Befehlsketten befindet sich vor allem das junge Surplus-Proletariat, das angesichts mangelnder Alternativen leichte Beute für die Kartelle ist. Die rücksichtslose und gewalttätige Akkumulationsmaschinerie der Drogenkartelle ist als Kontinuität der kapitalistischen Logik und nicht als Bruch mit dieser zu verstehen. Ihre Aktivitäten sind mit «legalen» und «illegalen»  Formen der Kapitalakkumulation verbunden, die mit verschiedenen staatlichen und ökonomischen Akteuren verschränkt sind.

José Adolfo Macías Villamar a.k.a. «Fito». Am 7. Januar 2024 brach er aus dem Gefängnis aus. Bild: eltiempo.com

Die Profite der Drogenkartelle sind so gross, dass sie nicht kleinmütig nachgeben werden. Unter einem bewaffneten Konflikt zwischen Staat und Drogenkartellen leidet vor allem die Bevölkerung. Als wäre die Gewalt der Kartelle nicht schon genug, führen die staatliche Aufrüstung und der Ausnahmezustand zu weitgehenden Kompetenzen für Militär und Polizei, die willkürlich und ohne Konsequenzen zu befürchten gegen die Bevölkerung vorgehen. Polizeiliche und militärische Menschenrechtsverletzungen und rassifizierte Gewalt richten sich dabei insbesondere gegen Menschen aus ärmeren Gegenden. Die Drangsalierung von Strassenhändler:innen, Handlangern und Armutsbetroffenen wird das Problem der Drogenkartelle aber nicht lösen.

Verschiedene Geschäftszweige der Kartelle

Die Drogenkartelle beschränken sich nicht aufs Drogengeschäft, sondern diversifizieren ihre Einkommensquellen, um Schwankungen der Profitrate vorzubeugen. Auch wenn die Nachfrage nach Kokain ständig zunimmt, können Gesetzesänderungen oder ein härteres staatliches Vorgehen gegen den Drogenhandel kurz- oder mittelfristig das Geschäft verschlechtern. Die ökonomischen Betätigungsfelder der Drogenkartelle beinhalten darum beispielsweise auch Immobilien-Spekulation oder andere Formen der Geldwäsche, Menschenhandel, Holzeinschlag oder der illegale Abbau von Rohstoffen, allen voran Gold. Insbesondere im Extraktivismus mischen die Drogenkartelle mit und ermorden vor allem in Mexiko und Kolumbien systematisch Umweltaktivist:innen. Die Diversifizierung der Geschäftszweige seitens der Drogenkartelle bedeutet auch, dass beispielsweise eine Legalisierung von Drogen – die zwar im Hinblick auf die Eindämmung der Macht der Kartelle einen wichtigen Einfluss hätte – dazu führen könnte, dass andere Geschäftspraktiken verstärkt in den Vordergrund geraten. Eine Legalisierung allein würde also die Macht der Kartelle kaum brechen.

Indigene Selbstorganisation gegen Staat und Kartelle

Wo sich Drogenkartelle breit machen, hat die soziale Selbstzerfleischung Hochkonjunktur. Die Narcos dringen nicht nur gewalttätig in das Alltagsleben der Menschen ein und zerstören den Zusammenhalt der sozialen Gefüge, sondern sie betreiben mit ihrem Extraktivismus auch eine Form der ursprünglichen Akkumulation. Ihnen die Kontrolle über Leben und Ressourcen zu entreissen, ist ein antikapitalistischer und antistaatlicher Kampf zugleich. Dieser Widerstand ist der Gewalt der Kartelle zwar nicht immer gewachsen – dennoch ist es fatal, auf Justiz, Polizei und Militär zu hoffen. Der Staat ist Komplize und Gegner der Kartelle zugleich und seine Methoden der Drogenbekämpfung führen zu einer Normalisierung des Militarismus. Gesetzesanpassungen im Namen der Drogenbekämpfung tendieren immer dazu, die Repression gegen soziale Bewegungen zu verstärken. In Ecuador wurde beispielsweise auch in den Jahren 2019 und 2021 ein Ausnahmezustand ausgerufen, dazumal gegen die massiven soziale Proteste. An wen kann man sich also wenden, wenn Staat, Kapital und Kartelle den Menschen das Leben zur Hölle machen? Effektiver Selbstschutz entsteht vor allem durch selbstorganisierte, kämpferische und solidarische Communitys. Hierbei lohnt sich beispielsweise ein Blick auf Formen der indigenen Selbstorganisation. Für viele indigene Communitys, nicht nur innerhalb Kolumbiens, sondern auch in vielen anderen Ländern Lateinamerikas, ist beispielsweise das jahrhundertealte Konzept der «Minka» von grosser Bedeutung. Der Begriff der «Minka» stammt aus dem Quechua, eine der meistgesprochenen indigenen Sprachen Lateinamerikas, und bezeichnet eine Form der kollektiven Zusammenarbeit zum Wohlergehen der Community. Alle Mitglieder beteiligen sich freiwillig daran, indigene Communitys sehen in dieser kollektiven Form der Solidarität eine Praxis, die ein gutes Zusammenleben ermöglicht und in der das Zugehörigkeitsgefühl zur Community und zum Territorium gestärkt wird. Eine «Minka» stärkt in diesem Sinne die Gemeinschaftsbeziehungen und fördert die Selbstorganisation. Sie kann aus verschiedenen Gründen ausgerufen werden, beispielsweise um Infrastruktur aufzubauen oder zu reparieren, Konflikte zu lösen, Mobilisierungen und Proteste zu organisieren oder eben, um sich gegen Drogenkartelle zu wehren.  

Indigener Selbstschutz im Cauca (Kolumbien). Bild: kolko.net

Community und territoriale Kontrolle – die «Guardias Indígenas»

Nebst den Zapatist:innen in Südmexiko oder den «Rondas Campesinas» in Cajamarca (Peru) ist die «Guardia Indígena» in Pioyá im Nordosten der Provinz Cauca (Kolumbien) ein interessantes Beispiel einer funktionierenden Selbstorganisation gegen die Gewalt der Drogenkartelle. Die dortige indigene Community hat, wie viele andere indigene Communitys, ein ungebrochenes Gemeinschaftsgefühl der kollektiven Verantwortung – etwas das im Kontext der neoliberalen Subjektivierung in den Städten eher selten anzutreffen ist. Seit dem Jahr 2001 organisiert die indigene Nasa-Community in Pioyá indigene Selbstschutzeinheiten. Sie versuchen dadurch die Cannabis- und Koka-Plantagen, die Kokainlabore und generell die Drogenkartelle aus ihren Gebieten zu drängen. Ihre Waffen? Walkie-Talkies und etwa achtzig Zentimeter lange Holzstöcke – für die Nasa-Community ein Symbol der Autonomie, des Widerstands und der Verbundenheit zu ihren Ländereien. Die «Guardias Indígenas» haben ein Netz aus Kontrollpunkten erstellt, um nach Drogenkartellen Ausschau zu halten. Werden Drogenkartellmitglieder gesichtet, wird per Walkie-Talkie sofort die ganze Community in der Umgebung informiert. Ein Mitglied der «Guardia Indígena» schilderte in einem Interview einen Vorfall vom Jahr 2018 wie folgt: «Gegen Mitternacht sichteten wir Narcos, zu jenem Zeitpunkt waren wir zu zehnt. Als wir uns ihnen näherten, fingen sie an, auf uns zu schiessen. Dennoch eilten immer mehr Mitglieder der «Guardia Indígena» herbei, um uns zu unterstützen. Aus zehn von uns wurden schlussendlich mehr als fünftausend. Im Verlauf des Morgens nahmen wir die Narcos gefangen. Sie hatten viele Gewehre, vier Granaten und 375 Schuss Munition. Sie wollten viele Menschen massakrieren. Wir verurteilten sie gemäss unserer eigenen Rechtssprechung und zerstörten ihre Waffen […]».

Mitglieder der «Guardia Indigena» vom Cauca nahmen 2021 an Protesten gegen soziale Ungleichheit und staatliche Gewalt in Kolumbien teil. Bild: gatopardo.com

Die Selbstorganisation der Nasa-Communtiy richtet sich aber nicht nur gegen die Narcos, sondern auch gegen ihre Plantagen und Kokainlabors. Sobald solche gesichtet werden, werden sie zerstört, was effektiv verhindert, dass sich Plantagen und Labors unkontrolliert verbreiten. Der kollektive und selbstorganisierte Kampf gegen die Drogenkartelle ist natürlich alles andere als einfach und viele Mitglieder der Nasa-Community wurden von den Kartellen ermordet. Dennoch lässt sich die Nasa-Community in Pioyá nicht einschüchtern, denn sie sehen sich als kollektiver Körper der nicht durch die Gewalt der Waffen ausradiert werden kann. Ein weiteres Mitglied der Community beteuert: «Die Narcos waren bewaffnet, aber sie konnten uns nicht töten. Wir waren zu viele. Und wenn eine Community zusammenhält, kennt sie keine Angst. Wir haben ihre Koka-Plantagen und ihre Labore verbrannt. Wir fanden alles Mögliche. Es sah aus wie ein Chemielabor. Das hat uns damals viele Drohungen gebracht, weil wir einem Geschäft schadeten, das viel Geld einbrachte.»

Der selbstorganisierte und kollektive Widerstand gegen die Gewalt der Narcos sollte nicht romantisiert werden, aber er kann Perspektiven aufzeigen. Leider gibt es diesen Widerstand nicht ohne Tote und es gibt auch viele Beispiele in Lateinamerika, in der die brutale Gewalt der Kartelle ganze Communitys eingeschüchtert hat. An vielen Orten konnten sich Drogenkartelle dadurch ganzer Territorien bemächtigen und den Staat verdrängen. Doch trotz der Widersprüche und Schwierigkeiten, die mit Selbstorganisationsversuchen gegen das Drogengeschäft einhergehen, zeigt gerade die aktuelle Situation in Ecuador auf, dass Selbstorganisation unumgänglich ist, denn es ist aussichtslos, auf den Staat zu vertrauen: Nicht nur hat er den Drogenkartellen überhaupt erst zu ihrer Macht verholfen, er garantiert auch das reibungslose Funktionieren des Kapitalverhältnisses, dass sich durch den Drang und die Notwendigkeit nach Profit charakterisiert und eine soziale Misere hervorbringt, die den Nährboden für die Verbreitung der Kartelle bietet. Auch eine erweitere staatliche Kooperation zur Bekämpfung des «organisierten Verbrechens», wie sie vor wenigen Tagen von Bolivien, Ecuador, Kolumbien und Peru unterzeichnet haben, wird daran nichts ändern.

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Systembruch Veranstaltungen


Film “Tino – Frozen Angel”

Di,23.01.2024 | Tür 19:30 | Film 20:00
@Dachraum Bibliothek Zug, St.-Oswalds-Gasse 21

«Sex, Drugs and Rock’n’Roll»: Der Hell’s Angels-Boss Martin «Tino» Schippert hat in 1970er-Jahren zweifellos nach diesem Motiv gelebt, und war schon damals eine Legende. Sein immer wieder beschworenes Charisma führte ihn in Gesprächsrunden mit Friedrich Dürrenmatt und Sergius Golowin. Bei den Globus-Krawallen spannten die linken Aktivisten mit den kampferprobten Rockern zusammen. Tino flüchtete vor zunehmender staatlicher Repression nach Südamerika, wo er zwischen Flucht, Gefängnis und Dschungel starb.

Blind nach Gummischrot

Di, 06.02.2024 | Tür 19:30 | Film 20:00
@Dachraum Bibliothek Zug, St.-Oswalds-Gasse 21

Wir schauen die Dokumentation von SRF “Blind nach Gummischrot – Warum setzt die Polizei Streumunition ein?” und diskutieren darüber.

Die Schweizer Polizei setzt Gummischrot bei unbewilligten Demonstrationen oder rund um Sportveranstaltungen ein. Damit steht sie im Vergleich zu ihren Nachbarländern einsam da. Das Problem: Zielen mit der Streumunition ist schwierig. Es können Personen und Körperstellen getroffen werden, die nicht direkt anvisiert wurden. Wieso setzt die Schweizer Polizei trotzdem auf Gummischrot?

Streik und Arbeitskampf bei Amazon

Lese- und Diskussionsrunde

Mo, 19.02.2024 | Tür 19:30 | Beginn 20:00
@Dachraum Bibliothek Zug, St.-Oswalds-Gasse 21

Wir lesen ein Interview zu Amazon aus der Zeitschrift Wildcat. Die deutsche Gewerkschaft ver.di kämpft seit zehn Jahren für einen Tarifvertrag bei Amazon, das sich weigert, darüber auch nur zu verhandeln. In mehreren Amazonlagern laufen ständig Streiks. Diese sind bisher zu schwach, um einen Durchbruch zu erzwingen, aber die Löhne sind deutlich gestiegen und an einzelnen Standorten werden immer wieder Verbesserungen erreicht.

Die Texte nehmen wir wie immer mit und lesen dann gemeinsam, ihr braucht also nichts vorher machen oder mitbringen.

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