Tomaten aus dem Wolkenkratzer

Der amerikanische Forscher Dick Despommier hat eine Vision: Er will den Hunger der Welt stillen, indem er Hochhäuser in Bauernhöfe verwandelt. Technisch wäre das machbar, mit erprobten Anbaumethoden aus modernen Gewächshäusern. Doch sind urbane Farmen ökologisch und ökonomisch auch wirklich sinnvoll?

Matthias Daum
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Ein Modell einer vertikalen Farm in der Nacht. (Bild: SOA Architects)

Ein Modell einer vertikalen Farm in der Nacht. (Bild: SOA Architects)

Eindunkeln im herbstlichen New York. Die Büros und Wohnungen der Wolkenkratzer leuchten in die Nacht. Doch unter das übliche Gelb und Weiss mischt sich ein grünes Glimmen. Es stammt von Plantagen, von vertikalen Farmen, die hundert Meter in den Himmel ragen. Eben noch suchten an dieser Ecke Manhattans Banker nach Auswegen aus der Krise. Nun züchtet man hier Tomaten, Zucchetti oder Weizen. Eine 30-stöckige Farm ernährt 50 000 New Yorker. Das ganze Jahr über, auch in den eisigen Wintern.

Altbekannte Anbautechniken

Alles Zukunftsmusik? Nicht, wenn es nach Dick Despommier geht. Seit zehn Jahren fordert der Professor für Umwelthygiene an der New Yorker Columbia University: Bringt die Bauern in die Stadt! Kippt die Landwirtschaft in die Vertikale! Nur so liessen sich in einer urbanisierten Welt genügend Nahrungsmittel produzieren. Denn nach Berechnungen der Uno stehen 2050 weltweit pro Mensch nur noch 1300 Quadratmeter Ackerfläche zur Verfügung; 1970 waren es noch 2000 Quadratmeter. Deshalb will Despommier mit 10 000 Jahren Menschheitsgeschichte brechen: Seit den ersten Stadtgründungen hat das Land die Bevölkerung ernährt. Nun sollen die Metropolen zu Selbstversorgern werden, getrieben vom Wunsch einer städtischen Elite nach lokal produzierter Nahrung.

Technisch wären die urbanen Farmen allerdings keine Revolution. Sie würden sich von modernen Gewächshäusern nur durch ihre Vertikalität unterscheiden. Die Anbautechniken – bekannt unter dem Namen Hors-Sol und Aeroponic – wären dieselben. Hors-Sol-Pflanzen wurzeln in einem anorganischen Substrat (meist Steinwolle) statt in einem Boden aus organischen Bestandteilen. Gespeist werden sie über eine wässrige Lösung von Nährsalzen. Aeroponic-Kulturen beziehen ihre Nahrung dagegen über die Luft – aus Nebeln, die mit Nährstoffen gesättigt sind. Was nach Science-Fiction klingt, wurde schon 1942 erfunden.

Die Anbautechniken erfordern ausgeklügelte Apparaturen zur Ernährung und Bewässerung der Pflanzen. Deshalb sind Hors-Sol- und Aeroponic-Kulturen bis heute kapitalintensiv. Ihr Anteil an der Gesamtanbaufläche ist entsprechend klein. Laut dem Schweizerischen Bauernverband wird hierzulande nur auf knapp 90 Hektaren Hors-Sol-Gemüse angebaut. Dem gegenüber stehen 916 Hektaren «normale» Gewächshaus- und 13 000 Hektaren Freilandproduktion.

Verführerische Idee

Doch die Idee des «vertical farming» verfängt, nicht nur wegen der schicken Illustrationen: Sie befriedigt die menschliche Sehnsucht nach einfachen technischen Lösungen für Riesenprobleme. Alles könnte in den Türmen angebaut beziehungsweise gezüchtet werden: Gemüse, Getreide, Fisch, Geflügel, Shrimps oder Muscheln – nur keine vierbeinigen Tiere. Der Wasserverbrauch wäre um bis zu 95 Prozent tiefer als beim Anbau im Freien, verspricht Despommiers. Er stützt sich dabei auf Herstellerangaben und Erfahrungswerte aus dem Hors-Sol-Anbau. Bei diesem werden im Schnitt 80 Prozent Wasser gespart. Die Produktivität pro Quadratmeter würde deutlich gesteigert; bei Kopfsalat um den Faktor 15.

Die Plantagen wären ausserdem vor schlechtem Wettereinfluss ebenso geschützt wie vor Schädlingen. Pestizide und Herbizide brauchten die Vertikal-Bauern keine. «Vertical Farming gewährleistet eine höhere Produktqualität», sagt Despommier. Die Grünflächen würden in der Stadt auch gleich noch die Luftqualität verbessern und als Kläranlagen dienen. Und Mutter Natur bekäme geschundenes Ackerland zurück: Für jede Indoor-Hektare könnten 10 bis 20 Hektaren Freiland-Anbaufläche renaturiert werden, behauptet Despommier.

Energieersparnis unklar

Wie aber sähe die Umsetzung dieser Utopie aus? Um die New Yorker Bevölkerung zu versorgen, benötige man 160 Hochhaus-Farmen, sagt Despommier. Nur: Wo sollen die stehen? Der Professor träumt von Mini-Farmen für jedes Flachdach, jede Schule, jedes Spital. Auch Hybrid-Wolkenkratzer mit einem Kern aus Büros und einer Gewächshaus-Hülle sind vorstellbar. New Yorker Lokalpolitiker zeigten sich interessiert. Gebaut wurde bisher aber noch keine der vertikalen Farmen. Denn es bestehen zu viele Unklarheiten.

Man fragt sich: Wie viel Energie verschlingt der Bau und Betrieb von Farm-Hochhäusern? Wie bringt man Licht in die schattigen Häuserschluchten? Und spart man mit dem Verzicht auf lange Transportwege tatsächlich mehr Energie, als eine Indoor-Farm in kalten Gefilden verbraucht? Zweifel sind angebracht, wie Erfahrungen der Blumenindustrie zeigen: Kenyanische Export-Rosen verursachen trotz Flugtransport nur ein Sechstel der CO 2 -Emissionen jener Blumen, die in geheizten Treibhäusern in den Niederlanden gezüchtet werden. Despommiers hat auf diese Fragen keine konkreten Antworten, hält aber dagegen: Seine Farmen würden ihren Energieverbrauch aus eigenen Solar- und Windkraftwerken decken. Ob in New York genügend Wind weht beziehungsweise die Sonne lang genug scheint, darüber schweigt er sich aus.

Ebenfalls ungeklärt ist die Wirtschaftlichkeit von Hochhaus-Farmen. Amerikanische Stadtplaner bezweifeln sie ebenso wie der Agrarökonomie-Professor Bernard Lehman von der ETH Zürich: «Solche Farmen wären nicht rentabel.» 20 Millionen Dollar kostet eine kleine, fünfstöckige Farm mit einer Nutzfläche von 16 200 Quadratmetern laut Despommier. Der Quadratmeterpreis liegt damit 9-mal höher als bei einem jüngst erbauten, hochmodernen Treibhaus im englischen Kent.

Zu niedrige Wertschöpfung

Finanzieren will Despommier sein Farmprojekt mit privaten Investoren und Staatsgeldern: «Alle Regierungen unterstützen die Landwirtschaft. Weshalb nicht auch die vertikale?», fragt er rhetorisch. Nur misst sich in einer Stadt wie New York die Wertschöpfung einer Tomate mit jener eines Investmentbankers, wie es Armando Carbonell vom Lincoln Institute of Land Policy in der «New York Times» formulierte. Will heissen: Würden für Vertical-Farming-Produkte Marktpreise verlangt, könnte sich niemand das an bester Lage produzierte Gemüse leisten.

Ausserdem gibt der ETH-Agrarökonom Lehmann zu bedenken: Der Mensch decke nur einen kleinen Teil seiner täglichen Kalorienmenge mit Feldfrüchten. Fleisch und Milch seien hierfür ungleich wichtiger. «Aber das für die Viehzucht notwendige Grasland lässt sich nicht reproduzieren.» Eine Tierhaltung im Hochhaus stünde zudem im Widerspruch zur geltenden Schweizer Gesetzgebung.

Erfolg nur im Kleinen

Die «gestapelte» Landwirtschaft hat also einen schweren Stand. Dies zeigen auch Beispiele aus den Niederlanden und China – der «Deltapark» und der «Greenport Shanghai», beide entwickelt an der Universität Wageningen. Die Grundidee war eine Verdichtung des ökologischen Kreislaufes auf engstem Raum, inklusive vertikaler Farmen. So wollte man die Produktivität steigern und den Ressourcenverbrauch senken.

Laut Jan Broeze von der Universität Wageningen scheiterte der «Deltapark» in Rotterdam, weil sich kein Betreiber für den im Park integrierten Schlachthof fand. Die Anlage war zu klein. Investoren bemängelten ausserdem die fehlende Exit-Strategie: «Eine Umnutzung der Gebäude bei einem Scheitern des Projekts wäre kompliziert gewesen.» Aus Geldmangel droht mittlerweile auch dem 27 Quadratkilometer grossen «Greenport Shanghai» die Schubladisierung. Er teilt sein Schicksal mit der Ökostadt Dongtan, als deren Kornkammer und Gemüsegarten er geplant war.

Allen Rückschlägen zum Trotz: Im Kleinen haben vertikale Anbauweisen durchaus eine Chance. Führend ist dabei die amerikanische Firma Valcent. In einem Zoo im englischen Devon hat sie im August das erste in der Vertikalen produzierte Tierfutter geerntet; monatlich 11 000 Salatköpfe. Diese wachsen in den Taschen grosser Vlies-Vorhänge, die an föderbandartigen Schienen hängen. Ein Computer sorgt dafür, dass alle Pflanzen genug Sonnenlicht bekommen. Versorgt werden sie mit einer wässrigen Nährlösung, die durch die Vorhänge sickert.

Im Vergleich zum herkömmlichen Anbau braucht das System nur einen Zwanzigstel der Landfläche. Laut Valcent ist es problemlos skalierbar, also auch für den grossflächigen Anbau geeignet. Und die Zoo-Verantwortlichen sparen Geld. Jährlich rund 100 000 Pfund – in erster Linie durch die geringeren Personalkosten. Das rechnet sich. Von glitzernden Hochhaus-Bauernhöfen aber spricht bei Valcent niemand.