«Ich hatte ein unheimliches Gefühl»

Herr Dürrenmatt, Sie haben 1968 gegen die Okkupation der Tschechoslowakei durch die Armeen des Warschauer Paktes protestiert. Friedrich Dürrenmatt: Ja, und nach dieser Kundgebung kam zwei Tage später ein Literaturprofessor aus Kiew zu mir und sagte, ich könne gegen die Sowjetunion sagen, was ich wolle, ich sei dort immer herzlich willkommen.

Interview: Irena Brezná
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Herr Dürrenmatt, Sie haben 1968 gegen die Okkupation der Tschechoslowakei durch die Armeen des Warschauer Paktes protestiert.

Friedrich Dürrenmatt: Ja, und nach dieser Kundgebung kam zwei Tage später ein Literaturprofessor aus Kiew zu mir und sagte, ich könne gegen die Sowjetunion sagen, was ich wolle, ich sei dort immer herzlich willkommen. Ich habe geantwortet, in diesem Fall gehe ich nicht mehr hin, und seither bin ich nicht mehr dort gewesen.

Sie waren in der Tschechoslowakei.

Ich war während des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei. Die Leute waren ungeheuer optimistisch. In Prag gab es eine sehr gute Aufführung meines Stückes «Die Wiedertäufer». Das war ganz eindeutig gegen den Präsidenten Antonin Novotny gerichtet, mit seinem Bild auf den Plakaten. Es war frech. Ich weiss noch, wie ich meinen tschechischen Freunden sagte: <Das kann schlimm enden.> Ich hatte ein unheimliches Gefühl. Und dann kam der Einmarsch. Danach war ich nicht mehr dort.

Ihr berühmtes Stück «Die Physiker» habe ich 1967 in Bratislava erlebt.

Ich habe es als Kammerspiel in Prag gesehen.

Der Computer als neue Gefahr

Das Stück darf jetzt nicht mehr in der Sowjetunion aufgeführt werden, weil es Ähnlichkeiten Ihrer Physiker mit den dissidenten sowjetischen Physikern gibt, die aus politischen Gründen verfolgt werden – Juri Orlow, der seine Strafe im Gulag verbüsst, und Andrei Sacharow, der in die Verbannung geschickt wurde.

Das freut mich sehr, ich wusste nicht, dass es verboten ist. Jetzt kommt eine neue Gefahr auf uns zu – der Computer. Das kann für die Wirtschaft eine Katastrophe werden. Ich habe gerade das Buch von Joseph Weizenbaum gelesen, der den Nachweis erbringt, dass die Computerwissenschaft vom Militär genützt wird. Jeder Rakete, die fliegt, ist ein Computer. Diese Erfindungen haben die Physiker vorbereitet.

Was Russland betrifft, finde ich es immer peinlich, wenn ein russischer Schriftsteller in den Westen reist, und dann wird er vom Schriftstellerverband ausgeschlossen. In Polen ist es auch sehr ungemütlich. Das letzte Mal bin ich nicht gegangen, weil man mir gesagt hat, ich solle dann bitte nicht mit meinen polnischen Freunden reden. In die Tschechoslowakei reist für mich mein Verleger Egon Karter, er ist sehr geschickt, spricht fliessend Russisch, Polnisch und Tschechisch, seine Mutter ist Tschechin und sein Vater Pole. Er hat einmal ein lustiges Erlebnis gehabt. Während er mit den Tschechen verhandelte, haben sie auf Tschechisch gesagt, dass er ein fürchterlicher Kerl sei. Er hat sich alles angehört, und dann hat er ihnen auf Tschechisch gesagt, was für einen miserablen Geheimdienst sie hätten, dass sie schon aus seinem Pass hätten wissen können, woher er komme.

Ähnlichkeit mit der Schweiz

Wie war Ihr Eindruck von der Tschechoslowakei?

Die Tschechoslowakei hat mich immer am meisten traurig gemacht. Das ist ein unerhörtes Land. Prag kam mir vor, wie eine Stadt, die zerfällt. Ich kam dort oft in eine schreckliche Verlegenheit. Einmal ging ich mit meinem Übersetzer in einen Laden, um böhmisches Glas zu kaufen, aber die Preise waren höher als sein Lohn. Da wird man verlegen und kann nichts kaufen. Sehr viele Leute können Deutsch und schimpfen auf das Regime, sagen offen ihre Meinung, auch der Taxichauffeur.

Die Opposition gegen das Regime ist ungeheuer in der Tschechoslowakei. Ich habe überhaupt niemanden getroffen, der für das Regime war. Das ist ganz grotesk. Ich war bei einem Jugendfest, alle liefen in irgendwelchen Uniformen herum, aber es gab keine Zuschauer. Man hat das Gefühl, dort herrscht eine total isolierte Regierung. Das macht einen sehr traurig. Polen ist anders, weniger traurig. Ausser im Frühling 1968, damals war eine grosse Hoffnung in Prag, doch das war eine Ausnahme.

Von den Schweizer Autoren sind Sie in der Tschechoslowakei der bekannteste.

Das Land tut mir immer leid, weil ich die Leute sehr liebe. Die Tschechen haben etwas von den Schweizern. Ich habe immer viel Ähnlichkeit gesehen, ausser dieser Traurigkeit. Die Tschechoslowakei war einmal eines der modernsten Ländern in Osteuropa gewesen. Das ganze Unglück fing bei der Konstruktion des tschechoslowakischen Staates an. Wahrscheinlich hätte man aus Österreich-Ungarn etwas Gescheites machen sollen. Na ja, ein trauriges Kapitel. Menschliche Dummheit ist das Problem.

Wegen der Neigung zur Groteske und zum Absurden müsste Ihnen die tschechische Literatur liegen.

Natürlich, aber ich kenne sie zu wenig. Was mich immer beeindruckt hat, war das tschechische Publikum. Das Publikum macht dort die Opposition.

Das ist das Tragische in den Diktaturen, dass alles politisiert wird.

Das Publikum wird hellhörig und verwandelt das Stück. «Romulus der Grosse» wird in Polen immer wieder gespielt, da kann man von der offiziellen Seite nichts dagegen sagen, aber das Publikum versteht das Stück, wie es will.